■ Die Linke hat Kriminelle zu lange als Opfer der Verhältnisse gesehen. Die Wahrheit muß wieder als Emanzipation verstanden werden
: Wahr ist, was Zustimmung vermehrt?

Vor zwei Jahren versetzten bestialisch ermordete Kinder unser Nachbarland Belgien in einen seelischen Ausnahmezustand. Der Pariser Figaro schrieb damals: Die Zeit, in der Schuldige nur noch als Kranke anerkannt wurden, sei weltweit schlicht abgelaufen. Derzeit wird in Deutschland viel über zwei Jugendliche aus Hamburg geredet, deren Vorstrafenregister so lang ist wie die Speisekarte eines Chinarestaurants. Schließlich hatten sie gar einen Mord zu verantworten. Liest man in deren Akte, so könnte man zu der Meinung kommen, mit dem Äußersten sei zu rechnen gewesen.

Als Laie kann ich nicht sagen, ob diese jungen Männer besser in geschlossenen Heimen untergebracht gewesen wären. Diese Frage kann weder durch bloßes Nachdenken entschieden werden noch durch den allgemeinen Rekurs auf ethische Prinzipien. Da sollten Fachleute zu Rate gezogen werden, und die Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht darauf, daß diese ihre Arbeit sorgfältig verrichten. Mir geht es darum zu erörtern, mit welchem „Welt- und Menschenbild“ wir an eine solche Frage herangehen, und wie sich dieses in den letzten Jahren gewandelt hat. Und zwar so gewandelt, als sei alles eine „Ansichtssache“.

Hinter dem eingangs zitierten Satz des Figaro verbirgt sich ein Paradigmenwechsel in der öffentlichen Wahrnehmung: Er mahnt das Ende des „therapeutischen Wahrheitsbegriffes“ an. Nicht andere Dinge werden gesehen, sondern die Dinge werden anders gesehen. Die therapeutische Einstellung zu alltäglichen, nicht klinischen Phänomenen, hat die Unterscheidung zwischen Täter und Opfer verwischt. Fragte man nur lange genug nach, so versteckte sich hinter jedem unheimlichen Täter ein heimliches Opfer. Die Psychologie liefert dazu die Theorien: Frustration schafft Aggression, der repressive Staat gebiert das Gewaltpotential selbst, das zu verhindern er angetreten war.

Mit der prinzipiellen Traumatisierung der je eigenen Geschichte wurde jeder Erklärungsversuch zu einer individuellen Entschuldigung mißbraucht, die individuelle Schuld gleichsam abgestreift. Die individuelle Verantwortung wich einer Soziologisierung des gesellschaftlichen Schicksals einerseits, einer Psychologisierung unserer individuellen Biographie andererseits. Wir zerforschten uns buchstäblich zu Tode.

Dieses „Wissen“ fand auch Eingang in die alltäglichen Deutungen: In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit wächst nun einmal die Kriminalität, nehmen die Diebstähle zu und ist ein Rechtsruck unvermeidlich. Dies gehörte zu den Selbstverständlichkeiten wenigstens der gebildeten Schichten in Zeiten allgemeinen Verständnisvorbehalts. Doch die Zeit, in der der Mensch seiner Geschichte nur ausgeliefert ist, ist abgelaufen. Der Mensch ist nicht mehr länger nur das Produkt seiner Umstände. Das Band zwischen gesellschaftlicher Erklärung und individueller Entschuldigung wird in Frage gestellt. Die „Logik“ des therapeutischen Wahrheitsbegriffs wurde zwischenzeitlich stark modifiziert. Nicht zuletzt durch die Therapeuten selber, für die sie keine vernünftige klinische Arbeitsgrundlage mehr darstellte.

Ich halte die Zurückweisung der Psychoanalyse als allgemeine Deutungstheorie für viele oder gar alle menschlichen Phänomene für einen Fortschritt der menschlichen Vernunft. Wir sollten dem Menschen das Stück Freiheit zurückgeben, das er braucht, um aufrecht zu gehen. Die 90er Jahre sind aber nicht nur der nutzlosen Nachdenklichkeit der 70er Jahre überdrüssig geworden. An die Stelle des therapeutischen Wahrheitsbegriffes haben sie die „nützliche Wahrheit“ zu setzen versucht, die „Wahrheit des Herzens“. Wahr ist, was Zustimmung vermehrt. Diese Wahrheit handelt nach dem Prinzip: Richtig ist, was hinten rauskommt. Die nützliche Wahrheit ist stolz darauf, keine Zumutungen der Vernunft einzufordern. Sie denkt sich selbst nicht. Das ist ihr stärkstes Argument im sozialen Sinne. Die nützliche Wahrheit wird zu einer Frage der Weltanschauung oder der Ansichtssache drapiert – so jedenfalls sehen es viele Konservative aus allen Parteien.

In konservativen Kreisen wird über Fragen der Weltanschauung nicht argumentiert, sondern fabuliert. Lassen wir also diese letzten Dinge, wie sie ein Bundeskanzler einmal nannte, ruhen. Was aber machen wir mit den Erklärungen für die Häufung von Verbrechen oder die Zunahme der Jugendkriminalität? Wenn wir auch diese zu einer Frage der Weltanschauung machen, wird diese genauso überdehnt wie vormals der therapeutische Wahrheitsbegriff.

Einige der Theorien, die in den 70er Jahren populär waren, werden heute als fragwürdig angesehen. An ihnen festzuhalten oder sie zu verwerfen ist keine Frage der politischen Haltung oder gar der Weltanschauung, sondern der mehr oder weniger guten Gründe, die für oder gegen sie ins Feld geführt werden. Manches mag falsch gewesen sein, aber wer das Falsche kritisiert, landet damit nicht automatisch beim Richtigen. Die Ergebnisse so mancher „Wissenschaften“ mögen getrogen haben, wer aber an ihre Stelle den bloßen Augenschein oder den gesunden Menschenverstand setzt, der kündigt den Fortschritt wieder auf, den einzuleiten er angetreten war.

Manche Empfehlungen, die jetzt abgegeben werden, ignorieren Erfahrungen, die an anderer Stelle gemacht wurden. Daß in Kalifornien mehr Geld für den Jugendstrafvollzug ausgegeben wird als für staatliche Bildungseinrichtungen, ist eine Tatsache, ebenso daß eine Zunahme an Bildung langfristig zu einer Verminderung der Straftaten führt. Daß auch die strenge Gesetzgebung Kaliforniens den Anstieg der Jugendkriminalität nicht aufgehalten hat, ist eine sehr gut begründete Vermutung. In Zeiten verständlicher Empörung wird die Erinnerung an das Denken als Zumutung empfunden. Es ist schwer, Empfindungen durch Argumente zu korrigieren. Aber wenn der Pulverdampf vorbei ist, sollten Politiker sich und andere daran erinnern, daß die Verknüpfung von Willens- und Wissensbildung ein Signum der Moderne ist, nicht eine Mode der 70er Jahre. Dann muß wieder mit Argumenten und mit Theorien gestritten werden. Ansonsten könnte es leicht geschehen, daß aus einer berechtigten Reaktion eine reaktionäre Empfindung wird.

Die Zeit, wo Schuldige nur noch als Kranke anerkannt wurden, ist schlicht abgelaufen. Einverstanden. Die Zeit, in der kein Schuldiger mehr als Kranker anerkannt werden darf, wäre schlichtweg inhuman, und verblödet wäre sie auch noch. Es wird Zeit, die Wahrheit wieder als ein Stück Emanzipation zu verstehen. Gert Keil