: Die Kultur der Deutschen
Die aktuelle Debatte um Multikulturalität kreist äußerlich um zwei Pole: die linksliberale Seite fordert ein interkulturelles Miteinander, die neokonservative ein ethnopluralistisches Nebeneinander. Im Kern ergänzen sich beide: kulinarische Vielfalt und farbige Moderatoren sind gut, Kopftücher und andere Zeichen der fundamentalistischen Vormoderne hingegen nicht ■ Von Mark Terkessidis
Wenn in den vergangenen zehn Jahren über die Verhältnisse zwischen dem Eigenen und dem Anderen in der Einwanderungsgesellschaft nachgedacht wurde, so geschah dies gewöhnlich unter dem Gesichtspunkt der Kultur. Im Vordergrund standen nicht länger Fragen um eine politische oder ökonomische Gleichstellung, sondern vielmehr solche um die Anerkennung von kulturellen Differenzen. Besonders intensiv kreiste die Diskussion um zwei Modelle. Zu Beginn der neunziger Jahre gewann die Idee eines liberalen und toleranten Multikulturalismus zunehmend an Einfluß. Nicht lange danach sorgte die sogenannte Neue Rechte mit ihren Apartheidsvorstellungen vom Ethnopluralismus für Furore.
Heute jedoch scheinen sowohl Multikulturalismus als auch Ethnopluralismus auf eigenartige Weise überwunden. Vor kurzem stellte der Spiegel fest, daß „Ausländer“ und Deutsche sich „gefährlich fremd“ seien und verkündete daher „das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft“. Von dieser Entwicklung müßte die Neue Rechte eigentlich profitieren. Sie verhält sich aber eher ruhig.
Wenn sich also weder der tolerante Multikulturalismus noch der autoritäre Ethnopluralismus durchgesetzt haben, was ist dann als neues Modell des Zusammenlebens in der Einwanderungsgesellschaft an deren Stelle getreten? Ich möchte die These aufstellen, daß die beiden Konzepte nicht verschwunden sind, sondern sich transformiert haben. Dabei sind die Vorstellungen der Neuen Rechten implizit in die offizielle Politik eingegangen, die heute materiell die Grenzen des Eigenen gegenüber den Anderen innerhalb und außerhalb Europas definiert.
Dagegen sind bestimmte Bilder und Ideen des Multikulturalismus in eine neue Repräsentation des Eigenen eingegangen: Die Mehrheit begreift sich heute vor allem im Hinblick auf den Konsum als „vermischt“. Allgemein betrachtet man sich als postmodern, weltläufig, offen, demokratisch, tolerant und ironisch.
Um zu begreifen, wie diese Transformation vor sich gegangen ist und was sie zu bedeuten hat, muß man noch einmal einen Blick auf die Inhalte und Funktionsweisen von Multikulturalismus und neurechter Abgrenzungsideologie werfen. Multikulturalismus, wie er in den neunziger Jahren in Deutschland etwa von den Grünalternativen Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid oder von dem linksliberalen Politikwissenschaftler Claus Leggewie vertreten wurde, bestand aus einer Verbindung von neoliberaler Marktvergötterung, konsumistischem Differenzgenuß und einem kulturellen Defizitdiskurs.
Soziale Ungleichheiten wurden in kulturelle Unterschiede überführt. Dabei ging es jedoch in keinem Moment um die Anerkennung von Differenz per se. Denn anerkannt wurden nur solche Differenzen, die genießbar waren, Differenzen, welche die eigene Kultur bereichern konnten. Alle anderen kulturellen Unterschiede – besonders jene, die im weiteren Umfeld der islamischen Religion auftauchten – galten als Ausdruck einer engstirnigen, potentiell gewalttätigen, „vormodernen“ Tradition, die sich an der normativen Westlichkeit abschleifen müsse, um schließlich wie die eigene Kultur auch zu einem rein privaten Lebensstil zu werden.
Auch in neurechten Gesellschaftsmodellen existierte nie der leiseste Zweifel, daß der Markt unbehelligt seinem natürlichen Wachsen und Gedeihen nachgehen solle. Und auch hier suchte man sich jene Differenzen aus, welche die Vorstellung vom Eigenen am besten abstützen konnten. Die immer zur Schau getragene Heterophilie bezog sich im Gegensatz zum Multikulturalismus nicht auf das Innere der Nationen. Neue Rechte konnten jedoch durchaus den kulturellen Unterschied der Anderen genießen, allerdings nur im Ausland oder im Ghetto. Die Differenz bedeutete ihnen Schicksal und einen potentiellen Konfliktstoff zugleich.
Beide Diskurse ergänzten sich, auch wenn das von den jeweiligen Protagonisten nicht beabsichtigt war: Multikulturalismus formulierte die Aufnahmebedingungen für die innere Assimilation, und Ethnopluralismus organisierte die Grundlage für die Verteidigung nach außen. Durch diese beiden Modelle wurde schließlich das Feld abgesteckt, auf dem heute das Verhältnis zum Anderen spielt. Während im neunzehnten Jahrhundert im Rahmen der kolonialen Expansion von den Anderen gefordert wurde, daß sie wie „wir“ sein sollten, muß der Andere am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts unbedingt kulturell anders bleiben.
Den Raum für seine Differenz definieren „wir“: Im Inneren darf sich der Unterschied nur als Lebensstil artikulieren, mit genügend Abstand zu sich selbst (humorvoll, ironisch), ansonsten fällt er als vormoderne, schicksalhafte „Tradition“ aus den Grenzen des Eigenen heraus. Anders gesagt: Es gibt eine gute Differenz, die sich im Döner-Prinzip verkörpert, und eine schlechte, gefährliche, die im Kopftuch ihren Ausdruck findet.
Von vornherein hatten die Ideen des Multikulturalismus und jene der Neuen Rechten unterschiedliche Adressaten. Insofern stießen die Ideen der neuen Rechten in der Zivilgesellschaft allgemein auf empörte Ablehnung, während man sich realpolitisch durchaus an ihnen orientierte. Die Maßnahmen, die etwa in Deutschland ergriffen wurden, um Rechtsradikalismus und Neue Rechte zu bekämpfen, erfüllten fast durchweg deren Forderungen. Zu Beginn der Neunziger schaffte eine Bundestagsmehrheit faktisch das Recht auf Asyl ab. Seitdem hat sich die Ostgrenze der EU mehr und mehr zu einer neuen Version der Berliner Mauer entwickelt. Und während man permanent über eine liberale Neuregelung des Staatsbürgerrechts debattierte, wurde das Ausländergesetz seit 1990 neunmal – teilweise dramatisch – verschärft.
Auch andere autoritäre Maßnahmen wie etwa der Große Lauschangriff konnten nicht zuletzt im Hinblick auf die organisierte Kriminalität von Ausländern durchgesetzt werden. Solche Maßnahmen verschärfen beständig die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen. Denn die Grenzen der EU sind gleichzeitig die virtuelle kulturelle Wasserscheide zwischen „uns“ und „draußen“ wahrgenommenen barbarischen Gewaltexzessen fremder Traditionen. Und auch innen werden vorsorglich virtuelle Grenzen zu den Anderen behauptet, von denen man ja nicht weiß, ob sie den für sie vorgesehenen Rahmen nicht möglicherweise doch überschreiten.
Prophylaktisch schickt man Forschergruppen in die Migrantengemeinden, um herauszufinden, mit wieviel Fundamentalismus – und damit Gewaltpotential man rechnen muß. Es ist kein Wunder, daß die genannten Maßnahmen von der Mehrheit kaum noch zur Kenntnis genommen, wenn nicht sogar begrüßt werden. Sie grenzen das Eigene ein, indem sie es zu schützen vorgeben.
Vor dem Hintergrund der außerhalb des Eigenen liegenden Prämoderne wirkt das Eigene in der Zivilgesellschaft nun wie ein posthistorisches Paradies. Da der Blick nach außen nur noch bedrohliche Traditionen sieht, können wir unser Idealbild von uns selbst mit der Realität verwechseln. Samuel P. Huntington, Prophet des kulturellen Armageddon zwischen dem Westen und dem Rest der Welt, definiert die westliche Zivilisation über die Ideen des Individualismus, Liberalismus und Konstitutionalismus, die sich im Gegensatz befänden zu allen anderen Gesellschaften, die nur durch Blut, Glauben und Familie zusammengehalten würden.
Ein perfider, selbstreferentieller Kreislauf kommt so in Gang. Denn einerseits höhlen wir wegen der Bedrohung durch die Anderen das demokratische System immer weiter aus. Andererseits feiern wir auf der Folie der intoleranten, gewalttätigen Anderen unsere demokratische Ideen, deren Funktionieren in der politischen Wirklichkeit niemand mehr bezweifelt.
Ebenso überzeugt ist man auch von der faktischen Existenz einer multikulturellen Gesellschaft. Diese Existenz scheint sich vor allem auf der Ebene der Repräsentation zu zeigen. Und tatsächlich, was man in den letzten Jahren erleben konnte, war der Einzug der Marginalisierten in die Repräsentation. Schwarze und asiatische Moderatoren nicht nur im Musikfernsehen, Travestismus im Samstagabendprogramm, Schwulenästhetik in Schlagern, schwarze, (schein-)ausländische und behinderte Sportler, Gangsterrap oder in jeder Beziehung vermischte Crossovermusik in den Charts. Die United Colours sind in die Gesellschaft explodiert – kein Hinterhofgartenfest darf mehr fotografiert werden, ohne daß zumindest ein nichtweißes Gesicht mit auf dem Bild ist.
Während der Westen materiell seine Hegemonie durch die scharfe Grenzziehung gegenüber den Anderen behauptet, scheint auf der Repräsentationsebene, auf der Ebene der Bilder, die Hegemonie scheinbar zu verschwinden. Allerorten lobt man flexible Techniken der Organisation von vielfältigen Unterschieden: Basteln, Bricolage, Sampling, Mix. Die große Differenzgenußmaschine macht dabei den Eindruck, als existiere kein Unterschied mehr zwischen konsumistischer Subkultur und Ethnizität. Rot gefärbte Haare und schwarze Haut scheinen das gleiche zu sein. De facto jedoch dürfen die Fremden nur dann Bestandteil des großen Mix werden, wenn sie ihre Fremdheit in ein leckeres Klischee verwandeln: Döner, Bauchtanz, Tsatsiki, Rhythmus...
Die Zivilgesellschaft kann die eigenen Ausschlußregeln nicht mehr erkennen. Wir wollen, so Rainald Goetz anläßlich der letztjährigen Love Parade, „nichts und niemanden ausschließen, außer den Ausschluß“. Von „uns“ geht scheinbar keine Exklusion aus. Es sind die Anderen, die ausschließen wollen, es sind die Anderen, die undemokratisch, puristisch, monokulturell, humorlos, fanatisch, mit einem Wort – fundamentalistisch – sind.
Im Verhältnis zwischen dem Eigenen und dem Anderen wird die paradoxe Zweiteilung von autoritärer, quasimilitärischer Grenzbehauptung gegenüber dem Kulturfundamentalismus und dem freundlichen Antlitz einer Lebensstilvielfalt, in der die Anderen als weitere konsumistische Differenz auftauchen dürfen, wohl die Zukunft dominieren. Militärische Hegemonie und Unterprivilegierung bilden dabei den stummen Zwang der Verhältnisse.
Immerhin ist der Einzug der Anderen in die Repräsentation auch ein widersprüchlicher Prozeß, der immer wieder neue Ausdrucksformen zuläßt, die sich dem hegemonialen Arrangement entziehen können. Nichtsdestotrotz fragt sich der schwarze britische Soziologe Stuart Hall zu Recht, ob es sich bei den neuen Formen der Repräsentation nicht um „die schlaueste Geschichte“ handelt, die „der Westen jemals erzählt hat“.
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