■ Ungezählte Flüchtlinge irren durch Berge und Wälder: Der Kosovo ist nicht Bosnien
Durch Berge und Wälder Kosovos irren Menschen, die vor dem Kriegsgeschehen geflohen sind. Man spricht von 100.000, einige sogar von 150.000 Flüchtlingen. Die Erfahrung sagt, daß es weniger sind. Aber kann, darf man menschliches Elend, Angst, Verzweiflung, Hunger, Durst, Tod in Zahlen fassen? Unwichtig ist die Reihenfolge der Ereignisse. Erst serbische Repression. Dann erobern albanische Aufständische, die sich UCK – Befreiungsarmee – nennen, Dörfer und Kleinstädte, schlagen Serben in die Flucht. Daraufhin kommt die serbische Übermacht mit Panzern und Artillerie, die Kämpfer verschwinden im Unwegsamen, die Ordnungsmacht stößt gegen Greise, Frauen und Kinder vor, die fliehen.
Das serbische Fernsehen zeigt Transporte mit Zement, Ziegelsteinen, Fensterglas für den Wiederaufbau. Sie werden vor allem Serben zugute kommen. Aber prozentual ist der Aderlaß, den die Serben erlitten haben, größer. Viele Dörfer, ganze Bezirke sind von den wenigen Serben, die noch dort wohnten, ethnisch gesäubert. Falls, wie man in Belgrad schätzt, 70.000 Albaner und 30.000 Serben auf der Flucht sind, haben 15 Prozent aller Kosovo-Serben und drei Prozent aller Kosovo-Albaner ihr Heim verlassen.
Nicht alle sind Flüchtlinge im klassischen Sinne, nicht alle haben jede Hoffnung verloren, in ihre Heimat zurückzukehren. Viele sind bei Verwandten im Kosovo, in Serbien und Montenegro, ja sogar in Albanien untergekommen. Auch die südliche Adriaküste von Montenegro bei Ulcinj ist von der Flüchtlingswelle mitten in der Touristensaison überschwemmt. Der größte FKK-Strand Europas befindet sich auf einer Insel auf dem Grenzfluß zu Albanien, der hier ins Meer mündet.
Aus vielen Gründen ist die Situation im Kosovo nicht mit jener in Bosnien vor wenigen Jahren vergleichar. Der wichtigste Unterschied: die internationale Gemeinschaft hat Bosnien und Herzegowina als souveränen Staat anerkannt, mag aber keine neuen Veränderungen von Grenzen in Europa dulden. Das bedeutet, daß der Kosovo eine Autonomie erhalten, aber innerhalb Serbiens und Jugoslawiens bleiben muß. Damit will sich kein Kosovo-Albaner, und schon gar nicht die rebellische UCK abfinden. Sie gerät so in Konflikt mit ihren bisherigen Gönnern in aller Welt und nimmt Flüchtlingsströme eigener Landsleute im Namen der „guten Sache“ in Kauf. Aus den Flüchtlingslagern werden neue Kämpfer rekrutiert. Das erinnert weniger an Bosnien, vielmehr an die Lage der Kurden oder der Palästinenser. Andrej Ivanji
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