: Helmut Kohl mimt Helmut Kohl
Mit dem Bundeskanzler auf Bädertour: Hart werde der Wahlkampf werden, hatte er angekündigt. Dem Publikum verabreicht er einen dünnen Hauch Geschichte ■ Von Dieter Rulff
Harald Wege ist gekommen, die blühenden Landschaften zu schauen. Der braungebrannte Mittfünfziger aus dem schleswig-holsteinischen Trittau tourt mit seiner Frau an der Ostseeküste entlang und nimmt Städte in Augenschein, die er bereits vor ein paar Jahren besucht hat.
An diesem Mittwoch nachmittag Ende Juli steht er am Kurplatz im Ostseebad Kühlungsborn und kann keine blühende Landschaft entdecken. Es sehe zwar besser aus als damals, aber hier sei doch noch jedes zweite Haus kaputt. Wege deutet auf bretterverhauene Ruinen, denen man ihre einstige Gründerzeitpracht noch ansieht. Wege, daheim Kassierer der CDU, steht auf dem Kurplatz, um seinem Parteivorsitzenden zu lauschen.
Helmut Kohl ist nach Kühlungsborn gekommen, von den blühenden Landschaften zu reden. Ja, er nimmt diesen Satz, der für viele im Osten zum Synonym des Gegenteils geworden ist, wieder in den Mund. Nicht trotzig, sondern von den eigenen Worten überzeugt. Und niemand ist da, der buht oder pfeift. Was sei er bespottet worden für diese Aussage, beklagt sich der Kanzler. Zwar seien die Schwierigkeiten größer als erwartet, doch in der Hauptsache habe er sich nicht getäuscht. Er habe die Einheit nie aufgegeben. „Wir sind ein Volk“, beschwört er die zweitausend, die gekommen sind.
Als wolle er aufkommende Zweifel ein für allemal tilgen, vergewissert er sich: „Meine Damen und Herren, das ist doch wahr, das hat sich doch nicht geändert. Wir sind ein Volk, in guten wie in schlechten Tagen.“ So ist das, seit sich Ost- und Westdeutschland das Jawort gegeben haben. Kein Zweifel, wer diese Ehe gestiftet hat. Für Helmut Kohl ist ganz Deutschland noch immer eine große Familie, und er sitzt am Kopfende des Tisches.
Es ist strahlendes Kaiserwetter in Kühlungsborn, man macht es sich in Bermudashorts und Badelatschen bequem, deckt sich mit Speiseeis und Deutschlandfähnchen ein. Allein die von einem freundlich lächelnden Mädchen dargereichten Buttons „Ich bin für Helmut Kohl“ bleiben unberührt. So viel Bekennermut ist nicht gefragt. Die Erwartungen an den Auftritt sind nicht überspannt: „den Bundeskanzler mal sehen“; für manche ist es das erste Mal, und es könnte ja das letzte Mal sein.
Statistisch betrachtet, steht Helmut Kohl auf der Bühne des Kurorchesters auf verlorenem Posten. In den Umfragen liegt die Union um die fünf Prozent hinter der SPD, im Osten rutscht sie gar in bedenkliche Nähe zur PDS. Mecklenburg-Vorpommern hat mit 24 Prozent die zweithöchste Arbeitslosenrate. Das seien, findet CDU-Kassierer Wege, zu viele. Zu viele, die keine Arbeit haben, und zu viele, die unzufrieden seien. Weshalb es sehr schwer werde für den Kanzler. Das sieht der Kanzler natürlich anders. Sagt er zumindest. Der Wahlkampf sei offen, auch wenn „einige Journalisten ihre Kommentare für den 27.September schon fertig haben“. Die Wahl werde in den letzten vier Wochen vor dem Termin entschieden, dröhnt Helmut Kohl in der Gewißheit, daß nur Helmut Kohl dabei entscheidend ist und daß diese Selbstzuversicht noch immer recht behalten hat gegen die Nörgler und Unkenrufer auch in den eigenen Reihen.
Die sind in diesem Jahr so zahlreich wie nie. Die Stimmung ist mau an der Basis, und die SPD bietet wenig Gelegenheit, sie aufzuhellen. Viele hätten gerne Schäuble als zweite Spitze gesehen, doch nun heißt es wieder: „Auf den Kanzler kommt es an!“
Aber kommt der noch an? Den härtesten Wahlkampf in der Geschichte der Bundesrepublik hatte Helmut Kohl auf dem Bundesparteitag in Bremen im Mai angekündigt.
Drei Tage lang tourt er durch die Bäder der Nord- und Ostsee, eine Art Probelauf. Doch was er den Kühlungsbornern wie zuvor den Heringsdorfern und hernach den Büsumern und all den anderen, die bei seiner Bädertour aufsucht, erzählt, ist Geschichte, sind Geschichten. Deutsche Geschichte und Geschichten aus dem Leben des Helmut Kohl, gesponnen in den Mustern einer Strickjacke, die einem jeden paßt, der sie sich überstreift.
Nicht, daß er sich intensiv dem politischen Gegner widmet oder die Urlauber mit den Feinheiten des christdemokratischen Wahlprogramms behelligt. Er nimmt die Strandurlauber für eine Stunde mit auf die Zeitreise, wirbt für sich mit der Suggestivkraft eines Wolldeckenvertreters: Die kommende Legislaturperiode, so hebt er an, gehe bis zum Jahr 2002. „Und wenn ich diese Zahl nenne, dann merken Sie, es ist eine Übergangszeit. Der Übergang von einem Jahrtausend ins nächste Jahrtausend. Jeder der nachdenkensfähig ist, und das wünsche ich mir, unserem Volk, ob jung, ob alt, hat einen Moment Zeit zu überlegen, wo kommen wir her, wir, die Deutschen, so wie wir heute hier zusammen sind, und wo wollen wir hingehen?“ Jeder, der einen Moment nachdenkt, erkennt die Leere solcher barocken Sätze, deren Sinn es ist, zwischen drinnen und draußen, Volk und Feind zu scheiden.
Dabeisein ist alles bei Helmut Kohl. „Wir“, „die Deutschen“, „die Menschen im Lande“ sind die Subjekte seiner Reden. Wer nicht dabei sein will, ist nicht nachdenkensfähig, denn es ist doch „die Tatsache“, „die Wirklichkeit“, „die Wahrheit in unserem Lande“, die der Kanzler unterbreitet. Helmut Kohl ist ein „Wahr-Sager“. Nicht daß er die „unangenehmen Wahrheiten“ eines Wolfgang Schäuble servieren würde.
Was Kohl auftischt, ist zur Gewißheit geronnene Alltagsempirie. Über die, die nicht dabeisein sollen: „Sie alle kennen das von zu Hause. Der eine geht in den Betrieb, der andere erhält Sozialhilfe. Am Ende passiert etwas, was unerträglich ist. Daß beide gleich viel im Portemonnaie haben.“ Das ist Sozialpolitik aus der Fünf-Minuten-Terrine. Da kann, da darf jeder mitrühren. „Wenn Sie zu Hause jemand eingeladen haben, und der beleidigt die Hausfrau, zerstört das Mobiliar, der fliegt raus.“ So wird der Löffel Ausländerpolitik hinterhergereicht. „Als Gast hat er sich den Bedingungen unseres Landes zu fügen.“ Die Zuhörer, ob in Kühlungsborn oder Sankt Peter- Ording, schlucken es begierig. An dieser Stelle ist Kohl der Applaus gewiß.
Er gibt dem dumpfen Ressentiment der maulenden Mehrheit Stimme – und den Schutz der Autorität: „Wir haben keinen Nachholbedarf. Ich lasse mir von niemandem sagen, die Deutschen seien ausländerfeindlich.“ – „Wer die Geschichte nicht kennt“, so lautet einer seiner Lieblingssätze, „kann die Gegenwart nicht begreifen und die Zukunft nicht gestalten.“ Und „der Schröder hat keine Geschichte“, so einfach ist das mit dem Sozen. Kohls Geschichte hingegen ist in der ersten Hälfte die zweier Diktaturen, der Inflation, der Vertreibung und „des Verlustes eines Drittels unseres Reichsgebietes“. Das ist keine sprachliche Entgleisung. Hier beklagt nur einer öffentlich eine Wahrheit in unserem Lande, über die an deutschen Wohnzimmertischen jahrzehntelang getrauert wurde. Doch die Trauergemeinde schrumpft.
Auch unter der CDU-Klientel schwindet die Kriegsgeneration, die in Kohl ihren geborenen Sprecher hatte. „Die Frauen, die, als die Männer im Felde waren, nicht gefragt haben, wie kann ich mich verwirklichen, sondern wie ziehe ich meine Kinder groß. Die Männer und Frauen, denen der Wiederaufbau unseres Vaterlandes zu verdanken ist.“ Und solche Männer und Frauen wünscht sich der Kanzler, um die aktuelle Krise zu überwinden. Keine, die sich selbst verwirklichen wollen. „Wir haben alle Chancen, wenn die Prinzipien wieder gelten: Treue, Fleiß und Zuverlässigkeit.“ Und damit hat er schon das Wesentliche zum aktuellen Thema Arbeitslosigkeit gesagt. Auch die Männer und Frauen im Osten bezieht der Kanzler in seine Würdigung ein, „denn fleißig waren wir überall“. Allein, so geht Kohls Geschichte weiter, „ein verbrecherisches Regime hat die Leute um die Früchte ihrer Arbeit gebracht“.
Tiefergehend will er sich an dieser Stelle nicht zum Thema Schuld und Konsequenzen einlassen. Zu naheliegend wäre die Frage nach der Blockpartei, deren Nachfolger mit ihm auf der Bühne des Kühlungsborner Kurorchesters stehen. Die Auseinandersetzung mit dem verbrecherischen Regime führt Kohl vor ausgesuchtem Publikum fort – bei seiner Bädertour im Westen. Sie mündet in der erbitterten Klage darüber, „daß SPD und PDS zusammengehen“. Denn Leute wie die von der kommunistischen PDS dürften „nie wieder Macht in Deutschland haben“. In Mecklenburg-Vorpommern, wo solche Warnung größeren Widerhall erfahren könnte, ist sie nicht zu vernehmen. Wie auch der Besucher vergeblich nach den Transparenten mit den Roten Händen Ausschau hält. Der Lagerwahlkampf findet nur im westdeutschen Lager statt.
Das Thema PDS ist die einzige Variation seiner Rede, mit der Kohl während seiner zehn Bäderauftritte aufwartet. Zehnmal erzählt er die gleiche „Erfolgsstory der Bundesrepublik Deutschland“. Keine Transparente stören ihn, keine Zwischenrufer nerven ihn, keine Helmut-Helmut-Rufe feuern ihn an. Ein Baß ohne Resonanzboden. Zum Schluß gibt es artigen Applaus, gerade so wie Studenten auf die Tische klopfen, wenn der Professor geendet hat.
„Geschichtsunterricht“ nennt Harald Wege aus Trittau die Ausführungen seines Parteivorsitzenden leicht verächtlich und auch verärgert. Denn er hätte sich, wie die meisten Zuhörer auch, von ihm mehr Konkretes gewünscht.
„Mehr handfeste inhaltliche Argumente“ im Wahlkampf hat auch der Bundespräsident gefordert. Als in Sankt Peter-Ording ein Journalist dies dem Kanzler nach seiner Rede unter die Nase reibt, herrscht der ihn an: „Das haben Sie falsch verstanden, das hat er nicht gesagt.“ Der Bundespräsident habe gesagt, wir brauchen dringend Reformen. So spricht der Patriarch, der keine Widerworte duldet, und dem schon lange keine mehr gegeben werden, teils aus Devotheit, teil aus resignierter Einsicht in die Zwecklosigkeit eines solchen Unterfangens, teils aus Angst vor der lauernden Aggressivität, mit der Kohl seine Entourage im Griff behält.
Dieser Habitus ist zementiert in der jahrelangen Erfahrung, daß Helmut Kohl nur auf Helmut Kohl bauen kann. Er ist für sich selbst und für andere zum Maß der Dinge und deshalb maßlos geworden. Er nimmt nicht mehr auf, sondern läßt teilhaben und teilt aus. Helmut Kohl scheitert an Helmut Kohl, weil er hermetisch geworden ist. Es war tatsächlich Geschichte, was der Kanzler den Badeurlaubern erzählt hat.
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