: Unwägbarkeiten der „Methode Schäuble“
In seinem neuesten Buch tritt Wolfgang Schäuble gleichzeitig als Verlangsamer und Beschleuniger auf ■ Von Norbert Seitz
Wer nach 16jähriger Regentschaft noch immer nicht aus der Deckung hervortritt, um eine allseits gewünschte Nachfolge anzutreten, gilt nach den Regeln des Machtspiels als eher schwach ambitionierter Zauderer.
Es gibt drei verschiedene Methoden der Beerbung von Langzeitregenten: die Methode Androsch, benannt nach der Selbstverbrennung des designierten Kronprinzen Bruno Kreiskys. Die Methode Clement ist die des geduldigen Zuwartens auf ein genehmes (Wahl-)Ereignis. Mit Schröders Niedersachsen-Coup schlug auch dem ewigen Designatus die Stunde. Schließlich die sicherste Methode – die Methode Kohl, benannt nach einem 39jährigen pfälzischen Nachwuchspolitiker, der 1969 den dienstältesten Landesfürsten mit geballter Fraktionsmacht aus dem Amt drängte.
Die Methode Schäuble scheint eine Abart der Methode Clement. Doch mit seinem Warten auf die Große Koalition befindet sich der versteckte Kandidat in der Double-bind-Situation, eine Konstellation aus persönlichen wie sachlichen Gründen betreiben zu müssen, ohne sie aber aus Loyalitätsgründen gutheißen zu dürfen.
Dementsprechend undeutlich fällt Schäubles Botschaft im Wahlkampf aus. Den Wunsch nach einer Großen Koalition wischt er beiseite: In Deutschland entspreche er dem stark ausgeprägten „Wunsch nach übergroßer Harmonie und stickigem Konsens „à la Wilhelm II.“. Die Methode Schäuble in seinem neusten Buch ist der untaugliche Versuch, den Verdacht loszuwerden, die Große Koalition zu wollen, der gerade zur Chiffre einer Überlebensstrategie für die Union zu werden schien.
Doch wer den erschreckend einfältigen Wahlkampf der Unionsparteien beobachtet, der wird Schäubles Buch immer noch als halbintellektuelle Anstrengung werten müssen, auch wenn sie, gemessen an den couragierteren Befunden und Empfehlungen Warnfried Dettlings, Alexander Gaulands oder Heiner Geißlers, enttäuschend ausfällt.
„Liegt die hohe Kunst des Politischen heute nicht eher in der virtuosen Beherrschung einer Infotainment-Klaviatur statt in der Mühsal des Bretterbohrens?“ In der Union herrscht Verdruß wegen der dominanten Medienkompetenz des Gegners im Wahlkampf. Beim 94er Wahlkampf der „Machtmaschine“ Kohl fand das Match noch unter umgekehrten Vorzeichen statt. Wer wie Schäuble anstelle der „sozialdemokratischen Seifenoper“ Schröders einen programmatischen Wahlkampf führen möchte, dem begegnen manche spöttisch mit Kohl, daß damit noch nie Wahlen gewonnen worden seien.
Der Fraktionschef betätigt sich als Clearing-Stelle zwischen neoliberalen und wertkonservativen Unionsgeistern. Er beschwört die Langsamkeit, statt sich von der „Unruhe und Unrast des Lebens treiben zu lassen“. Mit der Globalisierung dürfe man nicht „in die Beschleunigungsfalle tappen“. Den Erfordernissen der Beschleunigung und Hochgeschwindigkeit sei „ein Bekenntnis zur Langsamkeit, zur Umsicht, auch zur Vorsicht als Korrektiv entgegenzusetzen“. Schäuble sieht die Rolle der Union im Bremserhäuschen einer unaufhaltsamen Globalisierung, denn auch in Schumis „Grand-Prix-Zirkus“ gelte die Formel, daß nur mit guten Bremsen besser beschleunigt werden könne. Aber nur wenige Seiten danach schlägt der Autor schneidigere Töne an, es hapere hierzulande „an gesellschaftlicher Mobilität, an Flexibilität in den Arbeits- und Lebensformen, an Wagemut und Risikobereitschaft“. Letztlich wird aber nie deutlich, was unter der geforderten „Überwindung des Status quo“ zu verstehen sei – außer dem Abbruch der SPD-Mehrheit im Bundesrats. Denn ansonsten erhält die bundesdeutsche Gesellschaft mehr Streicheleinheiten als von neoliberalen Umkehrappellen gewohnt. Die Aufbruchbereitschaft sei da, sie müsse nur abgerufen werden, vom Stillstand oder Downsizing könne keine Rede sein.
Dennoch bleibt genug zu tun. Schäuble geißelt die Anspruchsdynamik eines schrittweise zur „Wohlfahrtsagentur mutierenden Sozialstaates“. Die alternde Gesellschaft hemme Kreativität und Innovationskraft. Renten müßten langsamer steigen, sonst würden Wirtschaft und Beitragszahler mit zu hohen Beitragssätzen überfordert und könnten die Sicherheit der Renten nicht mehr gewährleisten. In der Umwelt werde immer noch zuwenig mit Mitteln der Marktwirtschaft geholfen, obwohl „der Ökomarkt ein Wirtschaftssektor par excellence“ sei. Die Leistungsfähigkeit Deutschlands hänge von einer neuen Bildungsexplosion ab – jenseits des paralysierenden Einflusses einer Kultusministerkonferenz. Erkenntnisse für ein All-Parteien-Bündnis.
Darüber hinaus verbreitet der Autor keine ritualistischen Loblieder mehr auf den klassischen Nationalstaat wie noch in seinem letzten Buch zur Wahl 94, „Und der Zukunft zugewandt“. Denn wer soziale Standards schleifen, die Polizei aufrüsten möchte und eine militärische Ordnungsmacht anstrebt, kann sehr gut mit einem supranationalen Europa leben.
„Die Denkenden sehen die politische Faktizität mit Sorge“, zitiert Schäuble Jaspers' Klassiker aus den 60ern, „Wohin treibt die Bundesrepublik?“. Doch sosehr sich der konservative Modernisierer auch in der Beschwörung klassischer Tugenden und Wertvorstellungen gefällt, der Baringsche Alarmismus ist ihm als Tonart wohltuend fremd. Die „moralischen Korrektive“ gegen das „perverse“ Ausleben „abseitiger Wünsche“ seien zwar gegenwärtig etwas schwach auf der Brust, um das Schleifen von Tabus aufzuhalten. Dennoch vertraut er einer glaubwürdigen Politik, die deutlich machen müsse, daß Freiheit auch „Zumutung“ bedeute und Toleranz das „Gegenstück von Beliebigkeit“ sei. Schäuble betätigt sich hier weniger als „Pfadfinder einer mündigen Bürgergesellschaft“ des 21. Jahrhunderts denn als Lordsiegelbewahrer eines tradierten Wertekanons, der gegen den Egoismus, Hedonismus und die mangelnde Bereitschaft zu Felde zieht, sich für die Gemeinschaft zu engagieren.
Schäuble hat ein Buch geschrieben, das den Wahlkampfzwängen des „Weiter so!“ verpflichtet bleibt. Es berührt kein Unionstabu und weigert sich, über den Status Kohl hinauszudenken. Mancher Veränderung fehle lediglich „der Glanz der großen politischen Inszenierung“. Einer, der an den Gitterstäben des Kanzleramtes rüttelt, schreibt sicher andere Bücher. Der Autor erhebt mit seinem neusten Buch keinen erkennbaren Machtanspruch. Doch wer zu lange zögert, riskiert den eigenen Sturz oder eine erfolgreiche Außenseiterkandidatur.
Wolfgang Schäuble: „Und sie bewegt sich doch“. Siedler Verlag, Berlin 1998, 253 Seiten, 39,90 DM
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