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■ Schröder und Clinton suchen einen dritten Weg zwischen Neoliberalismus und Sozialstaat. Doch vieles trennt sie fundamentalDer Politiker als Reparaturmechaniker

Muster im unübersichtlichen Gewirr der Vielfalt zu erkennen und Epochen im Fluß der Zeit, kurz, der Geschichte Richtung und ein Ziel zu geben, ist allemal eine linke Leidenschaft. Und was sich momentan am Horizont abzeichnet, das sieht so recht nach einem Zeitenwechsel aus: Die 80er Jahre standen im Schatten von Politikern wie Reagan, Kohl und Thatcher, in den 90er Jahren schwingt das Pendel wieder zurück, und die Welt nähert sich unter der Führung neuer Köpfe, neuer Allianzen und unter neuen politischen Vorzeichen der Schwelle zum nächsten Jahrtausend. Clinton, Blair und Schröder sind dabei die fotogenen Repräsentanten einer neuen Linken, die weite Teile Europas beherrscht. Mitte-Links-Regierungen sind auch in Italien, Frankreich, Portugal, den Niederlanden, Österreich, Dänemark, Finnland und bald vielleicht auch in Deutschland an der Macht – auch auf der anderen Seite des Atlantiks regieren Sozialdemokraten in Kanada und Brasilien.

Clinton, Blair und Schröder gelten dabei als Exponenten eines dritten Wegs zwischen der Kälte neoliberalen Staats- und Sozialabbaus einerseits und dem bürokratisierten Sozialstaat der traditionellen Sozialdemokratie andererseits. Die Gemeinsamkeiten zwischen den dreien sind nicht von der Hand zu weisen, die Unterschiede aber auch nicht.

Marx hat gesagt, der Sozialismus werde im avanciertesten kapitalistischen Land zum Durchbruch gelangen, entsprechend müsse man die Entwicklung Amerikas beobachten. Marx hat auf eine eigenartige Weise Recht behalten. Alle sozialdemokratischen Parteien Europas haben nach dem Niedergang des Sowjetimperiums den Gedanken an den Sozialismus aufgegeben, und heute orientiert die ganze Welt sich in der Tat an Amerika, allerdings nicht an dessen Sozialismus. „Das ist das Ende der Sonderstellung Amerikas“, erklärt der Politologe Seymour M. Lipset. Bald steht Amerika nicht mehr einzig darin da, daß es all die sozialen Errungenschaften nicht hat, die Europa seit Jahrzehnten genießt – vielmehr wird Europa von den Amerikanern lernen müssen, wie man alle diese sozialen Dienste im Zeitalter des Staats- und Sozialabbaus neu erfindet. Blair ist da gegenüber Schröder der gelehrigere Schüler Clintons.

Letztlich aber bauen beide, Blair und Clinton, auf einem ganz anderen Erbe auf, als Schröder es antreten wird. Clinton mußte mit der Hinterlassenschaft Reagans und Blair mit dem Thatcherismus fertig werden. In Deutschland aber hat es nie einen „Kohlismus“ gegeben (wie der Politologe Jeremiah Riemer sagt). Denn Kohl hat den deutschen Sozialstaat nie fundamental angetastet. Und es bleibt abzuwarten, ob Schröder die Deutschen zu einer humanen und gleichwohl bezahlbaren postsozialdemokratischen Gesellschaft führen kann, ohne durch das Fegefeuer des Neoliberalismus gegangen zu sein, auf dessen Härten Clintons und Blairs Politik eine Antwort suchen.

Die amerikanische Gesellschaft ist von der deutschen sehr verschieden und macht eine Gleichsetzung von Schröder und Clinton und allemal des von ihnen eingeschlagenen politischen Wegs schwierig. Während der Neoliberalismus wichtige soziale Dienstleistungen wie Bildung, Kranken- und Sozialversicherung staatlicher Aufsicht entziehen und dem Markt überlassen will, wollen Clinton und Blair den Staat selbst nach den Prinzipien des Markts so umgestalten, daß er Bürger als Kunden ansieht.

In Deutschland aber ist schon der bloße Gedanke an die Privatisierung von Teilen des öffentlichen Sektors sozialer Sprengstoff und die Rückgabe sozialer Verantwortung vom Staat an die Gesellschaft ein unerhörter Gedanke – dies gründet natürlich in der Geschichte der jeweiligen Länder und Parteien. Die europäischen Sozialdemokraten gehen auf die Arbeiterbewegung und letztlich auf Marx' Vision einer klassenlosen Gesellschaft zurück, die christlich- konservativen Parteien Europas stehen in der Tradition des Katholizismus und seiner Sozialethik. Die amerikanischen Demokraten hingegen gingen allenfalls zeitweilige und zerbrechliche Bündnisse mit der Arbeiterbewegung ein, und die katholische Sozialethik spielte im protestantischen Amerika (ebenso wie in England) keine Rolle. Entsprechend heißt es von Blair auch mit einem gewissen Recht, er sei der erste christlich-soziale Politiker Englands.

Clinton und Schröder stammen gewiß aus ähnlichen Verhältnissen – beide sind in relativer Armut aufgewachsen, wurden von einer alleinstehenden Mutter großgezogen und mußten sich ihr Studium selbst verdienen. Doch Clinton wurde von der Bürgerrechtsbewegung des ländlichen Südens und nicht wie Schröder von der sozialen Situation im Nachkriegsdeutschland geprägt. Von Jerry Riemer stammt die pointierte Beobachtung, daß das, was für Europa die soziale und die Klassenfrage war, für Amerika die Rassenfrage gewesen sei. Dazu kommt, daß die deutsche und auch die europäische Sozialpolitik immer darauf zielten, das Niveau der Untersten anzuheben, während amerikanische Politik immer den Deckel lüften will, damit Menschen noch höher hinauskönnen. Entsprechend groß sind die sozialen Unterschiede in Amerika.

Bei aller Unterschiedlichkeit zwischen Demokraten und Sozialdemokraten existieren freilich auch Ähnlichkeiten zwischen Clinton, Blair und Schröder. Alle drei sind relativ jung, flexibel und schwer festzulegen. Sie verbindet eine Neigung zum Unideologischen: Positionen nehmen sie gewissermaßen nur versuchsweise ein, sie experimentieren mit Politik und sind bereit, jedes Prinzip über Bord zu werfen, um einen anderen Weg zu versuchen. Sie sind Krisenmanager und keine Visionäre, „Reparaturmechaniker, nicht Zukunftskonstrukteure“, wie sich der Politologe und Deutschlandexperte Andy Markowitz ausdrückt.

Prägend für diesen neuen Typus des Politikers sind vor allem die Zeiten, die sich seit dem Ende des Kalten Kriegs gewandelt haben. In den fortgeschrittenen Industriegesellschaften hat die technische Revolution die Arbeit umgekrempelt, die demographische Revolution hat den Generationsvertrag entwertet, zugleich ist die internationale Bewegungsfreiheit von Kapital, Waren und Menschen fast grenzenlos geworden. So sind die Raster und Muster, mit deren Hilfe man sich Welt und Geschichte eingeteilt und zu erklären versucht hat, brüchig geworden. Genau dies repräsentieren Clinton, Blair und Schröder: den bindungslosen Politiker in einer weglosen Zeit. Peter Tautfest

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