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Ein deutscher Dickschädel in Nicaragua

Ernst Fuchs alias Carlos Vanzetti: Nach zwanzig Jahren Nicaragua sieht sich der Vater der nicaraguanischen Neurochirurgie wieder als „heimatloser Linker“ – wie 1978, als er seinen Job als angesehener Arzt in Berlin aufgab  ■ Aus Managua Toni Keppeler

Mit so einem Schädel muß man Neurochirurg werden. Beeindruckende 62 Zentimeter Umfang, umflort von immer dünner werdendem graublondem Haar. Der Kopf macht diesen Mann, und Carlos Vanzetti hat einen richtigen Dickkopf. „Ich habe mich für Nicaragua entschieden“, sagt er. Und da ist er nun seit zwanzig Jahren. Egal, ob es der Regierung paßt oder nicht. Zweimal schon hat ihn der Gesundheitsminister entlassen. Einmal stand seine Ausweisung kurz bevor. Aber Vanzetti bleibt.

Einst hat er unter seinem bürgerlichen Namen Ernst Fuchs im Berliner Klinikum Steglitz Gehirne operiert. Er war vierzig und ein angesehener Arzt. Assistenzprofessor mit Ferienhaus in Schweden und einer schönen renovierten Altbauwohnung mit weiß nicht wie vielen Zimmern in Berlin. Nur eines unterschied ihn von den meisten seiner Kollegen: Er war irgendwie links.

Großartig war das freilich nicht. Ein bißchen Gewerkschaftsarbeit und Engagement für eine ordentliche Gesundheitsversorgung der Gefangenen aus der Roten Armee Fraktion. Doch in gehobenen Ärztezirkeln fällt so etwas auf.

Dann kam der Deutsche Herbst und mit ihm der große Frust über die Linke. Doch es wäre gelogen, wenn man das zufällige zeitliche Zusammentreffen der Toten von Stammheim mit dem Beginn des offenen Befreiungskriegs in Nicaragua als den wahren und einzigen Grund für Fuchs' ganz persönlichen Ausstieg verbrämen würde. Da war auch eine verkorkste Ehe. Vielleicht auch ein bißchen Abenteuerlust, der Horror vor der Vorstellung, in den nächsten 25 Jahren immer dasselbe zu tun, und vielleicht auch der Wunsch, anders, besser zu sein als die anderen. Jedesmal, wenn er die Geschichte seiner Entscheidung erzählt, setzt sich das Bündel von Motiven ein bißchen anders zusammen.

Tatsache ist, daß Ernst Fuchs 1978 seinen gutbezahlten Job kündigte, nach Costa Rica fuhr ins Haus des späteren nicaraguanischen Vizepräsidenten Sergio Ramirez. Daß er von dort in ein Ausbildungslager der Sandinistischen Befreiungsfront ging und daß er ein paar Wochen später unter dem Decknamen Carlos Vanzetti Guerilla-Arzt im Süden Nicaraguas war. „Bei Angriffen habe ich auch auf Menschen geschossen. Ob ich getroffen habe und getötet, weiß ich nicht.“ Trotz des hippokratischen Eids macht ihm das keine Probleme. „Der oder ich, das ist die einzige Frage, die in so einer Situation zählt.“ Die Verhältnisse in Nicaragua waren klarer als in der deutschen Linken.

Es dauerte nur ein paar Monate, dann war der Diktator Somoza vertrieben, die Sandinisten an der Macht und Vanzetti in Managua. Er behielt seinen Kriegsnamen und wurde wieder Neurochirurg. Heute, rund zwanzig Jahre später, könnte er fast dieselben Gründe für einen radikalen Wechsel nennen wie 1978 in Berlin. Aber er hat sich nun einmal in den Kopf gesetzt, daß Nicaragua sein Land ist. „Ich war damals ein heimatloser Linker in Deutschland“, sagt er. „Heute bin ich ein heimatloser Linker in Nicaragua.“ Wo liegt der Unterschied? „Vielleicht ist es leichter, heimatlos zu sein, in einem Land, das nicht das meine ist.“

Der Unterschied liegt auch im Alter. Vanzetti ist keine vierzig mehr. Er ist sechzig. Und außerdem gibt es kein Land mehr und keine revolutionäre Bewegung, die linke Träume entfachen könnten. Kuba vielleicht. Ja, Kuba. „Ich gehöre zu den weniger werdenden Leuten, die den alten Fidel noch immer verteidigen.“ Bildung für alle und ein formidables Gesundheitswesen, und das in der Dritten Welt. Das ist doch was. Aber ob so ein Dickschädel wie Vanzetti Platz hätte im seit fast vierzig Jahren zentral verwalteten Karibik-Sozialismus? Ob Vanzetti von Kuba nicht bald ebenso enttäuscht wäre wie von den Sandinisten?

„Ich habe mir 1979 keine großen Illusionen gemacht“, sagt er heute, „wer am 18. Juli, einen Tag vor dem triumphalen Einzug in Managua, in einem korrupten Umfeld korrupt ins Bett gegangen ist, konnte am Tag nach dem Sieg der Revolution nicht als neuer Mensch erwachen.“ Wo keine Hoffnung ist, kann nichts enttäuscht werden. „Aber ein bißchen mehr hätten die Sandinisten tun können.“

Mindestens das: mehr Vorbild sein. Nehmen wir zum Beispiel Daniel Ortega, seit mehr als zwanzig Jahren Galionsfigur der FSLN. Was da genau mit seiner Stieftochter Zoilamerica Narvaez und dem Vorwurf des sexuellen Mißbrauchs war, kann Vanzetti nicht sagen. Ein junges Mädchen im Haus, kann sich Vanzetti vorstellen, könne für einen Macho wie Ortega durchaus eine Versuchung sein. „Aber von einem politischen und moralischen Führer erwarte ich dann einen Kampf. Und ich erwarte, daß er diesen Kampf gegen die Versuchung gewinnt.“

Ein bißchen wie Jesus und der Satan in der Wüste. Vanzetti ist kein Christ. Aber sein Vater war es, und was für einer. Ernst Fuchs senior war einer der profiliertesten Neutestamentler seiner Zeit. Ein Universitätsprofessor aus dem Zirkel um Rudolf Bultmann und Ernst Käsemann. Einer, der die Bibel hemdsärmlig entmythologisierte und zum Schrecken demütiger Gläubiger behauptete, es sei völlig egal, ob das Grab Jesu leer gewesen ist oder nicht. Ein schwäbischer Dickschädel, der schwätzte, wie ihm das Maul gewachsen war. Ernst Fuchs junior hat den süddeutschen Zungenschlag in Berlin weitgehend abgelegt. Der Dickschädel blieb.

Er kriegt ihn nicht mehr los. Den Dickschädel nicht, und auch nicht seinen Vater. Er erzählt gerne von ihm. Der alte Fuchs muß ein deutscher Professor von altem Schrot und Korn gewesen sein. Einer, der die Autorität für sich gepachtet hatte. Und ein Patriarch obendrein. In der Nachkriegszeit, als Landpfarrer im Hohenlohischen, da hat er sich sonntags sein Fleisch braten lassen und am Familientisch verspeist. Für die Kinder gab es nur Nudeln mit Soße.

Man kann sich gut vorstellen, daß Vanzetti, fünfzig Jahre früher, auch so ein Patriarch gewesen wäre. Aber die Zeiten haben sich geändert, und das Land ist ein anderes. So lebt Vanzetti alleine, nur ein paar Straßen vom Krankenhaus Lenin Fonseca entfernt. Seine Frau und seine zwei halbwüchsigen Kinder wohnen ein paar Kilometer außerhalb von Managua auf dem Land. Man trifft sich fast täglich zum Abendessen. In seinem Haus. So lassen sich Charakter, Anspruch und Familienleben am ehesten vereinbaren.

Morgens zum Frühstück zappt sich Vanzetti durch die Nachrichtenprogramme, und wenn er aus dem Haus geht, dann in aller Regel zur Arbeit. Seit er vom Sandinismus nicht mehr viel erwartet, hat er sich in den Beruf gestürzt. Und er hat einiges erreicht. Vor Vanzetti gab es in Nicaragua keine Facharztausbildung für Neurochirurgen. Er hat sie im Krankenhaus Lenin Fonseca Schritt für Schritt aufgebaut, bis zur staatlichen Anerkennung. Assistenzärzte müssen heute nicht mehr erst für ein paar Jahre ins Ausland, bevor sie einen Tumor aus einem Gehirn schneiden dürfen.

Wenn man als Vater der nicaraguanischen Neurochirurgie entlassen wird, schmerzt das noch viel mehr. Der rechte Präsident Arnoldo Alemán ließ Vanzetti feuern, gleich nach seinem Amtsantritt Anfang vergangenen Jahres. Ärzte sind politisch überwiegend rechts und oft neidisch auf den Erfolg des Kollegen. Nicaragua ist da keine Ausnahme. Mit dem Wahlerfolg Alemáns fühlten sich Vanzettis Kollegen stark und starteten eine Kampagne gegen ihn. Er sei gar kein Doktor, sondern ein Scharlatan, behaupteten sie öffentlich und stützten sich dabei auf die Tatsache, daß es kein amtliches Dokument gibt, das einen Carlos Vanzetti als Facharzt für Neurochirurgie ausweist. In seinem Titel steht der Name Ernst Fuchs.

Nicht nur, daß Vanzetti aus dem öffentlichen Gesundheitswesen entlassen wurde. Man zeigte ihn an wegen Betrugs, weil er von seinen Privatpatienten Honorare verlangt hatte für einen Service, den er als Mann ohne Titel nicht geben kann und darf. Auf Anraten seines Anwalts zahlte er 6.000 Dollar zurück. Heute ärgert er sich darüber, daß er nachgegeben hat. „Ich hätte die Sache durchfechten sollen.“

Aber damals ging es um mehr als um einen dummen Streit neidiger Kollegen. Man gab Vanzetti zu verstehen, daß die Regierung seine Ausweisung erwäge. Da macht selbst ein Dickschädel Konzessionen. „Der deutsche Botschafter hat damals diskret interveniert“, und das war wohl mehr als nur ein routinemäßiges Amtsgeschäft. Den Gesandten und den Arzt verbindet nicht nur die Nationalität. Der Botschafter hat einmal evangelische Theologie studiert und Bücher des alten Fuchs verschlungen. Die diskrete Intervention zeigte Wirkung. Der dumme Streit um den Titel wurde vergessen, Vanzetti wieder eingestellt.

Daß er im April dieses Jahres schon wieder entlassen wurde, erfüllt ihn eher mit Stolz. Denn mit ihm wurden rund 2.000 streikende Ärzte des öffentlichen Gesundheitswesens gefeuert. So antwortete die Regierung auf die Forderung der Mediziner, statt weniger als hundert Dollar im Monat in Zukunft tausend verdienen zu wollen. Vanzetti wäre wohl beleidigt gewesen, wäre er nicht unter den Entlassenen gewesen.

Und trotzdem ist er nicht zufrieden. „Die haben doch in ihrer Mehrheit Alemán gewählt“, sagt er über seine Kollegen im Ausstand. Ein Streik von Rechten gegen eine rechte Regierung. Aber die Forderung ist gerecht. Von hundert Dollar im Monat konnte man zu sandinistischen Zeiten, als die Grundnahrungsmittel noch subventioniert waren, so gerade eben leben. Heute braucht man mindestens das vierfache Gehalt, um eine Familie mit dem Nötigsten über die Runden zu bringen. Oder, wie Vanzetti, eine Sprechstunde in einer Privatklinik.

Dieses Geschäft läuft nicht gut. „Die Leute, die wirklich Geld haben, gehen nach Houston oder Miami ins Krankenhaus. Und die anderen sind arme Schlucker und können nicht bezahlen.“ Vanzetti hatte also allen Grund, sich der Streikfront anzuschließen. Aber in der ersten Reihe wollte er nicht stehen. Einem Ausländer, sagt er, steht das nicht an.

Als dann nach Wochen des Ausstandes erste Straßenblockaden beschlossen werden, da wurde er dann doch etwas kribbelig. Was zählt da noch die Nationalität? Ein bißchen subversiv ist Vanzetti ja denn doch noch. „Ich habe ihnen mein Auto angeboten, daß sie es abfackeln. Ohne brennende Autos ist das doch keine richtige Blockade. Und man hätte hinterher sagen können, man habe geglaubt, der Wagen gehöre einem Streikbrecher. Für meinen 24 Jahre alten BMW wäre das ein würdiges Ende gewesen.“ Das Auto blieb heil. Vanzetti konnte seinen Dickkopf nicht durchsetzen.

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