: Katastrophenhilfe per Schnecke
Die Schnecke ist das Wappentier der bekennenden GenießerInnen von Slow Food: Dieses Tier symbolisiert die Beharrlichkeit einer internationalen Bewegung, die sich „die Förderung der guten Dinge“ zur Pflicht gemacht hat ■ Von Manfred Kriener
Meldungen aus der Welt der langsamen Esser: Das Convivium Aargau mit Dani Thalmann an der Spitze lädt ein zum „ersten Schweizer Marmeladen-Wettbewerb“. Das kleine, aber erfahrene Convivium Amsterdam erholt sich noch von der „Euroschoko“, einem Geschmacksworkshop rund um die europäischen Schokoladenspezialitäten. Die finnischen Mitglieder des Conviviums Oulu rufen ihre Mitglieder zu einer „önogastronomischen Rundreise“: Känguruh vom Grill wird serviert sowie japanische und peruanische Spezialitäten, begleitet von Weinen aus drei Kontinenten.
Die Kollegen in Helsinki und Tuusula vergnügen sich bei einem „Abendessen in mittelalterlicher Kleidung“, gegessen wird mit den Händen. Die Slowenen in Nova Gorica lieben es schlichter. Sie verkosten Weine aus der slowenischen Steiermark. Israelische Aktivisten haben in Beit Zayit, einem kleinen Dorf in der Nähe Jerusalems, den Bauernmarkt wieder ins Leben gerufen. Die einzige Kaffeerösterei des Landes hat dort einen Stand aufgebaut, Bauern verkaufen Kräuter und Mangos. David Zaslo bietet seinen Cidre und Honigwein an, Eli Toister läßt von seinem Olivenöl probieren.
So steht es unter der Rubrik „Nachrichten“, die am Ende einer jeden Ausgabe von Slow kurz über die weltweiten Aktivitäten der Slow-Food-Bewegung berichtet. Die Zeitschrift ist eine bunte Infobörse der kulinarisch Verrückten rund um die Welt. 60.000 Mitglieder in 35 Ländern gehören inzwischen zu dieser neuen Bewegung. Sie versuchen den Spagat zwischen lustvollen Tafelfreuden und dem Kampf gegen die Sintflut uniformer, künstlicher Nahrungsmittel. Es ist ein Spagat „zwischen Genuß und Verantwortung“.
So definiert das Programm der deutsche Ehrenvorsitzende und Stuttgarter Koch Vincent Klink. Und dieser Spagat ist offenbar ansteckend. In jeder Ausgabe werden neue Gründungen jener Convivien gemeldet, die so etwas wie die Ortsvereine der Tischkultur sind. Selbst in den kriegsverwüsteten Ländern des früheren Jugoslawien haben sich Menschen zusammengefunden, die Kultur und Geschmack in ihrer Region hochhalten wollen. Slow Food, die spannendste Neugründung seit den Grünen, wächst unter dem Wappentier der Schnecke hurtig.
Noch immer vermag niemand exakt zu definieren, wofür diese Organisation eigentlich steht. Vielleicht macht ja gerade diese Offenheit den Charme von Slow Food aus. Die Mitglieder können ihre eigenen Träume und Hoffnungen mitbringen, jeder hat sein eigenes Bild von den Zielen und Idealen. Die Convivien haben alle Freiheiten und dürfen die Richtung selbst bestimmen: Schlemmerabende, Kochrunden, Weindegustationen? Koschere Küche, Variationen von der Saubohne, Traumhochzeit von Süßwein und Blauschimmelkäse? Oder lieber Diskussionen mit Tierärzten, Besuche beim Biobauern und Petitionen beim Landwirtschaftsminister? Oder alles zugleich und zusammen?
Nichts ist unmöglich. Je nachdem, welches Convivium bei welcher Aktivität gerade gefilmt und beobachtet wird, fallen die Berichte der Medien aus: Mal werden wohlwollend die Kämpfer mit Messer und Gabel gerühmt, mal wird eine elitäre Clique abgekanzelt, die mit abgespreiztem Finger ein Vermögen verfrißt.
Slow Food steht zunächst für Langsamkeit, für das Recht auf Genuß, für natürliche Nahrungsmittel, für die Rettung alter Haustierrassen, für regionale Märkte. Doch neuerdings beschäftigt sich die italienische Zentrale auch mit Sonnen- und Windenergie, mit den Vorschriften der Brüsseler Eurokraten, mit Tiertransporten und Genpatentierung. Man gibt sich kämpferischer, politischer und vor allem ökologisch bewußter. Man möchte aber auch niemanden durch allzu radikale Sprüche erschrecken. So bleibt Slow Food schwer zu fassen, aber auf jeden Fall ist es mehr als eine Gegenidee zum Fast food.
Als Strategie gegen die Epidemie der schnellen Burgerbräter hatte alles begonnen, damals auf der Piazza di Spagna in Rom im Jahre 1986. Carlo Petrini, der charismatische Präsident und Gründer (siehe Interview), hatte von der Eröffnung einer weiteren McDonald's-Filiale im Herzen der Stadt Wind gekriegt. Er und seine Mitstreiter organisierten den Protest einer etwas anderen Art. Am Eröffnungstag belagerte sein „Freundeskreis des Barolo“ – eine Art Weinbruderschaft – das Burgerrestaurant rund um die Uhr. Vor dem Eingang wurde eine große Tafelrunde aufgebaut, man kochte, man trank, man sang. Und demonstrierte auf die sinnlichste Weise, daß Essen mehr sein kann als der im Minutentakt verschlungene Einheitsburger mit Plastesemmel, Salatblatt und Majoklecks. In jener historischen Nacht, heißt es, kam nach vielen Flaschen Wein die Idee von Slow Food auf die Welt.
Italien ist bis heute Herz und Motor der Bewegung geblieben. Im piemontesischen Bra sitzt die Zentrale, die viermal im Jahr die Zeitschrift Slow produziert und alle großen Aktivitäten koordiniert. In Italien finden auch die spektakulärsten Auftritte statt. Mal wird eine Pyramide aus tausend Champagnergläsern aufgebaut. Und gefüllt! Mal wird der italienische Starkoch Vissani angeheuert, um für tausend kantinengeschädigte italienische Soldaten ein Festessen aufzutischen. Auch nach dem großen Erdbeben in Umbrien füllte Slow Food den Opfern die Teller. Und das nicht nur mit Erbsensuppe und Speck: Katastrophenhilfe, die durch den Magen geht.
Ein wichtiges Standbein für Slow Food ist der Büchermarkt. Immer neue Wein-, Einkaufs- und Restaurantführer werden auf den Markt geworfen, edle Bücher über Olivenöl oder Balsamicoessig herausgegeben. Und man lädt zu großen Degustationen und kulinarischen Erlebnissen.
Der nächste große Wurf ist der „Salone del Gusto“, der Salon des Geschmacks in Turin im November dieses Jahres. Was dieses Laboratorium der Sinne während fünf Tagen an Gaumenkitzel und Informationen anbietet, ist einmalig. Auf dem Programm stehen 204 „Geschmackslektionen“, darunter 50 Weindegustationen, 27 Käseproben, 22 Wurst- und Fleischseminare, dazu bunte Häppchenkost aus allen Teilen der Welt. Da referieren Lidia Alciati und ihre Söhne über die Tradition der weißen Trüffel, lassen Safranproduzenten aus Iran, Sardinien und der Türkei das „Gold der Berge“ erschnuppern. „Straßen der Gewürze“ werden eröffnet, „Salamis der Keuschheit“ angeschnitten und die Theorie der Sachertorte ebenso erkundet wie die Typologie großer Weinbrände. Unzählige Küchenchefs kochen auf, selbst aus China wird ein großer Meister der Reistafel erwartet.
Was Slow Food in Turin präsentiert, könnte tatsächlich so etwas sein wie das „gastronomische Erbe der Menschheit“. Alle Kontinente sind vertreten mit einem nie dagewesenen Panorama an Düften, Farben und Geschmäckern. An keinem anderen Ort waren jemals zuvor so viele Spitzenproduzenten aus kleinen Handwerksbetrieben versammelt. Allenfalls Kaiserkrönungen könnten kulinarisch ähnlich stimuliert haben.
Da blicken manche fast ein wenig neidisch nach Italien, das unverändert im Mittelpunkt der Aktivitäten steht. In der Bundesrepublik bleibt Slow Food mit seinen zweitausend Mitgliedern in 41 Städten vergleichsweise bescheiden. Hier tun sich Convivien und Vorständler noch immer schwer, wenn sie zeigen wollen, was in heimischen Landen an großartigen Dingen erzeugt wird. Zwar gibt es auch bei uns Qualitätskäsereien, Bäcker und Metzger, Gemüsebauern und Schweinezüchter, die jenseits normierter Massenware tolle Produkte anbieten. Doch vielen Herstellern fehlt es an Phantasie und Selbstvertrauen, um sich mit einem Stand stolz der Öffentlichkeit zu präsentieren.
Gleichwohl: „Die Deutschen sind nicht genußfeindlich, auch wenn hier nicht so fröhlich geschlemmt wird wie in Italien oder Frankreich“, sagt Andrea Arcais. Er gehört zum dreiköpfigen Führungsteam im Vorstand von Slow Food Deutschland, redigiert das nationale Mitgliederblatt Schneckenpost und ist die ehrenamtliche Anlaufadresse einer Bewegung, die „wie verrückt expandiert“. Nach Jahren, in denen man sich, wie jeder anständige Verein in Deutschland, vorwiegend mit sich selbst beschäftigt hat, versucht eine neue Führungsmannschaft eine Scharnierfunktion zwischen Bioszene und Feinschmeckerei auszufüllen.
Kein leichter Job: Ökobauern und ihr ideologischer Überbau sind vielerorts vorwiegend auf die giftfreie Scholle fixiert. Daß ihre Radieschen, Zucchini und Kürbisse nicht nur schadstoffreduziert sind, sondern auch noch großartig schmecken, erscheint manchmal wie eine unbeabsichtigte Nebenwirkung. Auf dem Ökomarkt am Berliner Chamissoplatz ist ein Gemüseverkäufer noch immer von den Socken, wenn ein feinschmeckender Stammkunde seine kleinen, wunderbar scharfen und geschmacksintensiven Knoblauchknollen glücklich in Empfang nimmt.
Arcais will solche Produzenten aus der Ökonische herausholen und mit der Spitzengastronomie und den Gourmets einkreuzen. Mit einem elitären Feinschmeckerclub habe das wenig gemein, sagt Arcais. Er weiß, daß er sich wohl lebenslänglich mit diesem Vorwurf auseinandersetzen muß. Zugleich postuliert er eine Wächterfunktion seiner Organisation gegenüber den Zumutungen der Lebensmittelindustrie und den hygienischen und kulinarischen Zwangscharaktern in der Brüsseler Eurokratie. Die Rettung des Rohmilchkäses, die Opposition gegenüber dem Zugriff der Geningenieure, Aufklärung vor Geschmacks- und Aromafälschern: Das alles zählt er zum Aufgabenfeld von Slow Food.
Sein Ehrenvorsitzender Vincent Klink sagt es knapp. Slow Food, das ist „die Förderung der guten Dinge“. Die Freude am Genießen sei, so der Stuttgarter, noch kein Grund, einen Verein zu gründen. Ehrliche Erzeuger anschieben und die Verhunzung der Nahrungsmittel verhindern – dieser herkulischen Aufgabe sollen sich die langsamen Genießer stellen. Und: „Wenn das Ganze nicht in Korksandalen betrieben wird, freut's mich um so mehr.“
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