Kommentar: Die Gräber von Orahovac
■ Nur eine Exhumierung kann die Wahrheit an den Tag bringen
Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer, lautet eine alte Journalistenregel. Die Konfliktparteien tun gewöhnlich ihr Bestes, die Journalisten und damit die Weltöffentlichkeit auszuschließen oder in ihrem Sinne zu instrumentalisieren. Leidtragende sind immer die Menschen, die zwischen die Fronten geraten. Sie werden zur Flucht genötigt, gezielt vertrieben und nicht selten auch Opfer von Massakern, nachdem die Kämpfe vorüber sind – wie seinerzeit im bosnischen Srebrenica.
Im Kosovo haben Berichterstatter, die sich vor Ort, nach Orahovac, begeben, nur wenige Möglichkeiten, die Wahrheit herauszufinden. Die meisten Einwohner sind geflohen. Serbische Truppen patrouillieren und sehen neugierige Journalisten als potentielle Feinde an. Einzelne Leichen liegen immer noch unbegraben umher, über frisch aufgeschüttete anonyme Gräber gibt es die widersprüchlichsten Informationen. Sind es 37, 50 oder 60 – oder mehrere hundert? Warum wurden sie wie Vieh in eine Grube geworfen, von Planierraupen mit Müll und toten Kühen zugedeckt, und das gleich neben einem muslimischen Friedhof?
Augenzeugen sind in solchen Situationen gewöhnlich die einzige Möglichkeit, die Informationslosigkeit zu durchbrechen. Das war auch in Srebrenica nicht anders. In Orahovac haben der taz-Reporter Erich Rathfelder und der Korrespondent der Washington Times einen Zeugen gefunden, der behauptet, an dem Massenbegräbnis selbst beteiligt gewesen zu sein. Das ist zuwenig, um Gewißheit zu haben. Aber mehr, als ARD-Reporter Friedhelm Brebeck herausfand, der in den „Tagesthemen“ abfällig sagte, von Massengräbern berichteten „nur die Roma“ des Ortes.
Die Wahrheit kann nur eine Exhumierung ans Licht bringen. Entweder man findet tatsächlich eine große Zahl von Kinder- und Frauenleichen, oder es liegen dort ausschließlich Opfer von Kampfhandlungen. Ein Drittes gibt es nicht.
Österreichs Außenminister Schüssel hat sich als EU-Ratsvorsitzender an die einzig zuständige Instanz für Kriegsverbrechen gewandt: Das Haager Tribunal hat sich ja auch schon für den Kosovo zuständig erklärt. Es fehlt noch die in Belgrad beantragte Genehmigung zum Graben. Ob sich Milošević dem entziehen kann, wird nicht zuletzt vom Druck der Weltöffentlichkeit abhängen. Michael Rediske
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