piwik no script img

Großalarm am Jangtse

■ In den Hochwassergebieten Chinas sind die Fluten am Wochenende weiter gestiegen. Die Millionenstadt Wuhan war gestern trotz einiger Deichsprengungen flußaufwärts akut bedroht. In Paizhu, rund 70 Kilometer vor der Jangtse-Metropole, war es schon vor einer Woche zu einem Dammbruch mit verheerenden Folgen gekommen. Bauern berichten von mindestens tausend Toten. Doch Armee und Zivilschutz hüllen sich über die Zahl der Opfer in Schweigen.

Der Jangtse hat sich trotz des riesigen Deiches kurz vor Paizhu wie ein See ausgebreitet. Den Bauern dort steht das Entsetzen über das Drama, das sich wenige Kilometer flußabwärts abgespielt hat, noch ins Gesicht geschrieben. Unter dem Druck des seit über einem Monat andauernden Hochwassers war der Deich gebrochen. „Mindestens tausend Menschen sind umgekommen“, sagt einer der Bauern, „vielleicht sogar mehr.“

Genaue Angaben über die Zahl der Menschen, die am 1. August beim Dammbruch in Paizhu, rund 70 Kilometer südwestlich der Industriestadt Wuhan, von den Fluten mitgerissen wurden, sind nicht bekannt. Noch Tage später lassen die chinesischen Medien Nachrichten nur spärlich durchsickern. Die Behörden hüllen sich, wie bei Ereignissen dieser Art in China üblich, in Schweigen. In der offiziellen Opferbilanz von Paizhu ist lediglich von 19 vermißten Soldaten die Rede, die Armee hat den Zugang zum Katastrophengebiet abgeriegelt.

Funktionäre, die einige Kilometer vom Unglücksort entfernt mit dem Aufspüren undichter Stellen im Deich beauftragt sind, widersprechen den kursierenden Zahlen. „Über tausend Tote in Paizhu? Das sind nur Gerüchte“, behauptet einer von ihnen. Eine eigene Schätzung will er nicht abgeben. „Wir haben alles versucht, um die Zahl der Opfer gering zu halten. Aber wenn wir hier die Situation nicht mehr kontrollieren könnten, wäre Wuhan akut bedroht.“

Der Mann war vor Ort, als sich das Unglück ereignete. „Letzten Samstag konnten wir den Deich nicht mehr halten. Am Vorabend hatten wir am Fuß des Damms ein Loch entdeckt. Die Situation hat sich sehr rasch verschärft. In solchen Fällen hat es gar keinen Sinn, das Loch mit Sandsäcken stopfen zu wollen. Normalerweise baut man um die undichte Stelle herum im Halbkreis einen Notdamm, der das Wasser zurückhalten soll. Mehrere hundert Personen haben die ganze Nacht gekämpft. Aber die Zeit hat nicht gereicht, plötzlich hat alles nachgegeben.“

Den Kopf mit einem Strohhut bedeckt, der ihn vor der Hitze schützen soll, ist er nun am Hauptdeich im Einsatz, wo ständige Alarmbereitschaft herrscht. So weit das Auge reicht, wurden entlang des Damms in Abständen von hundert Metern behelfsmäßige Kontrollposten eingerichtet, die mit roten Fahnen gekennzeichnet sind. Knapp einen Meter unterhalb der höchsten Stelle des Deiches, einer mehrere Meter hohen pyramidenförmigen Böschung, die auf Flußseite durch Steinblöcke befestigt ist, schwappt das schlammige Wasser. Der Nebendamm, der sich in rund drei Kilometer Entfernung auf dem Niveau des Flußbettes befindet, war schon vor ein paar Tagen aufgegeben worden.

An der höchsten Stelle liegt der Wasserspiegel mehr als vier Meter über der tiefer gelegenen Ebene. Vier Meter über Hunderttausenden von Dächern – und über Hunderttausenden von Bauern, deren Leben davon abhängt, ob dieser Deich die Millionen Kubikmeter Wasser des Flusses halten kann. Der Deich in Paizhu war niedriger und weniger stabil. Vor allem war er laut Aussage des Amtes für die Verhütung von Überschwemmungen illegalerweise innerhalb des durch den Hauptdeich abgegrenzten Bereichs errichtet worden.

Auf den Hauptdeichen herrscht weiterhin äußerste Wachsamkeit, denn eine Katastrophe wie in Paizhu kann sich jederzeit wiederholen. „Wir sind hier in Vierergruppen rund um die Uhr im Einsatz, um das Wasser und vor allem neue Lücken oder undichte Stellen beobachten zu können“, erklärt schweißtriefend ein Funktionär. Die Temperatur ist auf 38 Grad gestiegen, die Feuchtigkeit ist sehr hoch. „Für den Notfall steht alle paar Meter eine Person bereit.“ Seit einigen Tagen hat es nicht mehr geregnet, aber der Wasserpegel ist noch nicht gesunken. Der Deich war seit mehr als zwei Wochen ununterbrochen den Wassermassen ausgesetzt, ist mittlerweile aufgeweicht und brüchig. „Wovor wir uns fürchten, ist ein Gewitter. Wind und Wellen bedeuteten bei der durchweichten Erde eine Katastrophe“, erklärt er.

An der kleinen Straße, die sich den Fluß entlangzieht, sind einige Tage nach dem Drama die Evakuierungsmaßnahmen für die 50.000 Bewohner des Distriktes Paizhu noch immer in Gang. In Bussen werden die letzten Flüchtlingsgruppen, die auf Schulhöfen oder in Verwaltungsgebäuden warten, weggebracht. Sie haben kaum etwas bei sich, bestenfalls ein Kleiderbündel. Manche haben beschlossen, zu bleiben.

In der benachbarten Ortschaft Jinku erheben sich einige Fabrikgebäude wie halb versunkenes Strandgut aus den Wassermassen. Frau Liu klagt über den Verlust ihrer Fische, die durch das ansteigende Wasser aus den Becken der Fischzucht entweichen konnten. Seit fast zwei Wochen lebt sie mit ihren Nachbarn und ihrer Familie in einem Notzelt, das in der Eile am Hang des Deiches errichtet wurde. Zu ihren Füßen liegt, was von ihrer Zucht und dem Haus übriggeblieben ist. Wie Hunderte anderer Gebäude wurden sie von den Wassermassen überschwemmt. „Das Wasser des Jangtse ist durch den Deich gedrungen“, erzählt sie und zeigt, wie um ihre Worte zu bekräftigen, auf ein kleines Rinnsal, das sich zu ihren Füßen gebildet hat.

Frau Liu hatte noch Zeit, ein paar Gegenstände zu retten, die ihr das Leben unter den Planen erleichtern. Stöße von Kleidern sind auf einer Bank gestapelt, Küchengegenstände liegen verstreut am Boden. Die Nachbarn haben sich so gut wie möglich im mangelnden Komfort eingerichtet, wunderbarerweise gibt es einen Ventilator, der über ein Stromkabel, das an ein benachbartes Haus angeschlossen ist, betrieben wird.

Trotz des drohenden Ausbruchs von Ruhr oder Cholera trinken die Menschen das schlammige Flußwasser, das in Eisenfässern neben dem Zelt vor sich hin gammelt. „Wenn wir es abkochen, ist es genau so wie Mineralwasser“, beteuert ein junger Mann, der bei den Einsatzgruppen mitmacht, die den Deich überwachen. Sie haben es vorgezogen, hierzubleiben, um ihren Besitz vor Dieben zu schützen, „die in der Nacht kommen“.

Frau Liu wagt es nicht, an die Zukunft zu denken. Besorgt meint sie: „Ich habe durch das Hochwasser Zehntausende Yuan verloren. Ich glaube, die Regierung wird uns zum gegebenen Zeitpunkt entschädigen. Doch zur Zeit sind sie alle noch zu sehr mit den Deichen beschäftigt. Sie werden ohnehin nicht genügend Mittel haben, um alle zu entschädigen. Wie viele sind wohl in meiner Lage?“ Anne Huelgat, Paizhu

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen