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Grams – Selbstmord oder doch Mord?

Der Tod des früheren RAF-Mitglieds Wolfgang Grams in Bad Kleinen 1993 wird diese Woche noch einmal vor Gericht verhandelt. Die Eltern von Grams haben die Bundesrepublik vor einer Zivilkammer verklagt  ■ Von Wolfgang Gast

Berlin (taz) – Die mörderischen Ereignisse werden noch einmal aufgerollt: Der Tod des früheren RAF-Mitglieds Wolfgang Grams wird Gegenstand einer öffentlichen Gerichtsverhandlung. Über fünf Jahre nach dem katastrophal verlaufenen Polizeieinsatz von Bad Kleinen verhandelt das Bonner Landgericht am Donnerstag und Freitag über eine Zivilklage der Eltern von Wolfgang Grams. Die Eltern sind überzeugt, daß ihr Sohn am 27. Juni 1993 bei dem Einsatz in Mecklenburg-Vorpommern von Beamten der Eliteeinheit GSG 9 erschossen wurde.

Die Bemühungen der Eltern, Beamte der Einheit wegen des Tötungsverdachts vor Gericht zu bringen, waren vor rund zwei Jahren gescheitert. Deshalb wählten die Anwälte der Familie anschließend den Weg über das Zivilrecht – sie klagen gegen die Bundesrepublik, Bonn soll die 12.305 Mark Beerdigungskosten erstatten. Die 1. Zivilkammer des Bonner Gerichtes wird nun in den Räumen der Schweriner Justiz eine eigene Zeugenanhörungen und auf dem Bahnhof in Bad Kleinen einen Ortsbesichtigung durchführen. Theoretisch ist die Zivilkammer dabei nicht an die Entscheidungen der anderen Gerichte gebunden. Auch nicht an die Ausführungen der Bundesregierung, die in einem Abschlußbericht einen Selbstmord des RAF-Mitglieds konstatierte.

Der Einsatz im Juni 1993 dauerte nur wenige Minuten. Am Ende waren außer Grams auch der GSG-9-Beamte Michael Newrzella tot. Grams' RAF-Gefährtin Birgit Hogefeld wurde verhaftet, und wenige Tage später wurde der V-Mann des rheinland-pfälzischen Verfassungsschutzes, Klaus Steinmetz, enttarnt. Er hatte die Fahnder zu dem RAF-Pärchen geführt.

Anfangs wurde die Aktion mit Todesfolge als großer Erfolg der Terrorbekämpfung ausgegeben. Durch die Aussagen einer Kioskverkäuferin und eines Polizeibeamten, der ungenannt bleiben wollte, tauchte dann aber der Verdacht auf, Grams sei – möglicherweise aus Rache für den getöteten Kollegen Newrzella – aus nächster Nähe erschossen worden. Zu einem Zeitpunkt, als er bereits wehrlos auf den Gleisen lag. Immer neue Pannen bei der Aktion mit dem Tarnnamen „Weinlese“ wurden bekannt. Und das hatte Folgen: Innenminister Rudolf Seiters trat zurück. Führende Beamte im Bundeskriminalamt und der Generalbundesanwalt Alexander von Stahl, der die Einsatzleitung an sich gezogen hatte, mußten den Hut nehmen.

Die wilde Schießerei beschäftigte über Monate den Bundestag, den Bonner Innenausschuß und mehrere Staatsanwaltschaften. Fehler über Fehler listete schließlich auch ein Schlußbericht der Bundesregierung auf. Nur, der böse Verdacht der bewußten Tötung wurde nach und nach entsorgt. Trotz gegenteiliger Zeugenaussagen, trotz bleibender Unstimmigkeiten, trotz widersprüchlicher Expertengutachten.

Es war ein Vollwaschgang. Die Schweriner Staatsanwaltschaft, die das „Todesermittlungsverfahren“ führte, gab Entwarnung. Die Todesumstände des mutmaßlichen Terroristen seien „widerspruchsfrei durch Selbstbeibringung“ zu erklären. Parallel verlief wenig später die öffentliche Demontage jener beiden Zeugen, die behauptet hatten, der namenlose GSG-9- Beamte mit der Codenummer 6 habe den bereits reglos auf den Gleisen liegenden Wolfgang Grams mit einem aufgesetzten Kopfschuß getötet. Sowohl der am Einsatz beteiligte anonyme Beamte, der sich dem Spiegel offenbarte, als auch die Kioskverkäuferin seien „in ihren zentralen Aussagen unglaubwürdig“.

Als glaubwürdig galten den Staatsanwälten dagegen die Aussagen von 22 am Einsatz beteiligten Zeugen. Obwohl diese, wie ein Schweriner Ermittler Mitte Juli 1993 erklärt hatte, „mit den phantasievollsten Begründungen“ alle dasselbe sahen: nämlich nichts.

Folgt man der Lesart der Staatsanwälte und dem Tenor des Schlußberichts der Bundesregierung, dann hat sich der Tod von Wolfgang Grams in etwa wie folgt zugetragen: Beim Versuch der Festnahme im Füßgängertunnel des Bahnhofs flüchtet Grams die Treppe zum Bahnsteig zwischen den Gleisen drei und vier hinauf. Innerhalb von fünf oder sechs Sekunden feuert er dabei an die zehn Mal mit seiner Pistole. Er erschießt den GSG-9-Beamten Newrzella, der ihm auf der Treppe in kurzer Distanz gefolgt war. Ein weiterer Polizist wird von Grams angeschossen. Alles geschieht im Laufen. Grams, der das obere Treppenende erreicht hat, wird dann durch einen Bauchschuß und vier weitere Treffer schwer verletzt. Er stürzt rücklings auf die Gleise, ohne dabei seine Waffe zu verlieren. Angesichts seiner aussichtslosen Lage faßt Grams den Beschluß, sich zu erschießen. Er tötet sich mit einem aufgesetzten Schuß an seiner Schläfe.

Selbst gestandenen Fahndern aus der Terrorismusabteilung des BKA leuchtet ein solcher Ablauf nicht ein. Daß ein von einer Polzeikugel mit voller Wucht Getroffener noch in der Lage sein soll, in Sekundenfrist den eigenen Suizid zu beschließen und durchzuführen, das scheint den Polizeipraktikern nahezu ausgeschlossen. Weitere Ungereimtheiten blieben.

Im Sommer 1994 zog dann der renommierte Düsseldorfer Rechtsmediziner Wolfgang Bonte die amtliche Version vom Selbstmord in Zweifel. Im Auftrag der Eltern Grams' fertigte Bonte ein Gutachten, in dem er seinen Kollegen schwere Fehler vorhielt. „Fremdtäterschaft“, so Bonte, könne nicht ausgeschlossen werden. Eine Hautabschürfung auf der rechten Hand von Grams beweise, daß ihm seine Pistole entwunden worden sei. Mit Bontes Gutachten wollten die Eltern eine Wiederaufnahme der Ermittlungen erreichen – ohne Erfolg.

Der mörderische Verdacht wurde anschließend höchstrichterlich entsorgt. Das Oberlandesgericht Rostock (OLG) lehnte Ende März 1996 ab, eine Anklage gegen die GSG-9-Beamten anzuordnen. Der 1. Strafsenat verwarf mit seiner Entscheidung einen Antrag der Eltern des getöteten Grams als unbegründet. Ruth und Werner Grams hatten ein Klageerzwingungsverfahren in Gang gesetzt, nachdem die Staatsanwaltschaft in Schwerin die Ermittlungen gegen die Polizeibeamten eingestellt hatte. In der Begründung des OLG hieß es, „daß die Beschuldigten der ihnen vorgeworfenen Straftat nicht hinreichend verdächtig und infolge dessen ihre Verurteilung in der Hauptverhandlung nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist“. Die neue Verhandlung könnte zu einem anderen Schluß kommen.

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