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Doppelgängerdialoge

■ Leistung soll sich nicht mehr lohnen. Zwei Geschichten über gesellschaftlichen Druck

„Je oller, dosto jewski!“ Dieser Kalauer des evangelischen Hobbytheologen Kapielski fiel mir wieder ein, als ich im Amtsgericht Moabit vor dem Saal 502 einen jungen, gutaussehenden Russen sitzen sah, der blaß, aber gefaßt in einem dicken Roman in kyrillischer Schrift las. Er war wegen Rauschgiftgenusses und Fahrens ohne Führerschein angeklagt. Vor Gericht erzählte er, daß er eine Lehre als Ölbohrer im sibirischen Tjumen abgebrochen habe, weil seine Eltern mit ihm nach Berlin gezogen seien. Inzwischen habe er eine eigene Wohnung sowie auch eine ABM-Stelle, vorher hätte er hier jedoch gegen seine fortdauernde „toska“ immer mehr Drogen gebraucht. Neuerdings würde er – statt dessen – einen Psychologen im Prenzlauer Berg aufsuchen. Der Angeklagte wurde feinfühlig freigesprochen.

Die „Helden“ Dostojewskis bezeichnete B. M. Engelgardt einmal als Vertreter eines „zufälligen Geschlechts“, losgelöst sind sie zu „Menschen einer Idee“ geworden – und der Romanautor dementsprechend zum „Historiographen einer Idee“, nicht einer „Biographie“. Deswegen ist für ihn auch nicht die Zeit, sondern der Raum maßgebend, in dem die Hauptfiguren – nicht selten mit Doppelgängern – „dialogisch koexistieren“.

Hier soll von zwei dostojewskischen „Helden“ die Rede sein, die – auf entgegengesetzte Weise – mit ihren Doppelgängern kommunizieren. Zur Zeit leben beide auf engstem Raum – im Gefängnis. Der eine ist der Neuköllner Arno Funke (alias Dagobert), er ist inzwischen bereits Freigänger. In einigen Wochen erscheint seine „Autobiographie“ (im Chr.-Links-Verlag), schon jetzt veröffentlicht er regelmäßig im Eulenspiegel. Und laufend bekommt er – als Autor und Zeichner – neue Aufträge: „Wenn das so weitergeht, muß ich mich noch einschließen lassen, um alles zu schaffen!“ Arno Funke warnt in seinen Antwortbriefen sogar Kinder, die ihm seit seiner Verhaftung massenhaft schreiben, vor Nachahmung von Kaufhauserpressung und Geldübergabegeschichten.

Der andere ist der „falsche Arzt“ Dr. Dr. Clemens von Bartholdy – ein Postbote namens Postel, der immer wieder als Amtsarzt arbeitete. Eine Zeitlang wohnte er in Wilmersdorf – gleich neben Günter Rexrodt (sic!). Postel ist selbst ein (erotischer) Doppelgänger – von Mathieu Carriére, gleichzeitig ist er Apostel aller exproletarischen Umschüler, denen man einhämmert: „Sie müssen lernen, sich besser zu verkaufen.“ Postel hat bereits ein Buch über seine Hochstapeleien sowie seine Verstrickung in die Barschel-Affäre veröffentlicht. Jetzt will man einen Film über ihn drehen.

Im Gegensatz zu dem immer wieder mit armen Ausländerinnen liierten Funke wurde Postel vor allem von Ärztinnen, Richterinnen und Journalistinnen liebevoll unterstützt, einige halten ihm auch jetzt noch die Treue. Bereits im Zusammenhang mit dem Medienrummel um Funke, dem laut Bild „beliebtesten Verbrecher der Nachkriegszeit“, wurde in Berlin ein Gesetz vorbereitet, das nun in Kraft tritt: Damit ist es verboten, aufregende bzw. massenbegeisternde kriminelle Taten selbst medial bzw. pekuniär zu verwerten. Diese „Lex Dagobert“ betrifft jedoch weder Postel noch Funke: Ersterer muß all seine guten Amtsgehälter zurückzahlen und letzterer mehrere Millionen Mark Schaden wiedergutmachen. Die Signalwirkung des Gesetzes zielt insbesondere auf die nichtkriminellen Zweitkarrieren dieser beiden – mit dem Tenor: Leistung darf sich nicht lohnen!

Dabei hatte noch kurz zuvor der Berliner Kultursenator Radunski die Parole ausgegeben: „Was wirtschaftlich gesund ist, kann künstlerisch nicht kranken!“ Seiner neuen – ordoliberalen – Definition von „entarteter Kunst“ nach, müßten gerade die jetzigen Werke dieser beiden Medienstars (Postel hat bei der FAZ fast einen eigenen Redakteur) berlinökonomisch gefeaturet und also schwerstens steuerbefreit werden. Statt dessen hebt der Senator eine stümperhafte „Berlin-Biennale“ aus der Lotto-Taufe, die derart leistungsfeindlich daherkommt, daß die Verantwortlichen es vorzogen, sie zunächst heimlich irgendwo in New York zu präsentieren.

Aber dafür fließt ihnen der Rubel ungestraft zu. Übrigens steht ihnen dabei Postel weitaus näher als Funke. Die Prostituierten und Psychotiker als Patienten lehnten den falschen Arzt vehement ab, während er sich bei seinen Vorgesetzten schnell einzuschleimen verstand: „Der Mann hat mich sofort überzeugt, sein Auftreten, seine Referenzen“, so der Chef einer Klinik bei Leipzig, wo Postel zuletzt arbeitete – voller Verachtung gegenüber seinen Ost-Kollegen. Während er die erfolgreiche Intelligenz imitierte (ausgehend von einer Bremer Ärzte- Party, zu der eine Freundin den Noch-Postbeamten einmal mitgenommen hatte), pocht Funke auf die Dialektik pressierter Proletarität. Vor Gericht erklärte er: Den sozialen „Druck“, der immer mehr auf ihm lastete, habe er quasi mit letzter Kraft in Detonationsdruck umgesetzt und daneben mit immer drohenderen Briefen Druck ausgeübt – damit wollte er den Kaufhauskonzern unter Druck setzen, damit der Druck auf die Polizei ausübe, damit die wiederum ihm endlich das Geld aushändige, wozu sie zuletzt tatsächlich neigte. Da aber war Arno Funke bereits mürbe geworden – dem Fahndungsdruck erlegen, wie man so sagt. So gesehen sind die zwei in gewisser Weise auch (verfemte) Doppelgänger – füreinander, und beide wurden in Telefonzellen verhaftet. Helmut Höge

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