: Mit Hund und Ratte in die Uckermark
Strafunmündige Kinder aus Berlin sollen auf einem Bauernhof im Norden Brandenburgs auf die rechte Bahn zurückgeführt werden. Voraussetzung ist absolute Freiwilligkeit. Das angrenzende Dorf profitiert durch Arbeitsplätze ■ Von Plutonia Plarre
Ein mit Strohballen beladener Pferdekarren zuckelt über die holprige Landstraße. Die Fahrbahn wird eng und enger und mündet schließlich in einen löchrigen Plattenweg. Nach kilometerlanger Fahrt kommt plötzlich Kopfsteinpflaster, das in einer staubigen Sandpiste endet. Hinter Wiesen und Stoppelfeldern leuchtet in der Ferne das Rot eines frischgedeckten Bauernhofdachs. Das zu dem Dörfchen Petershagen gehörende alleinstehende Gehöft im nördlichsten Zipfel Brandenburgs nahe der polnischen Grenze soll die Heimat für kriminelle Kinder aus Berlin werden. Fernab der Großstadt, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, sollen acht strafunmündige Gören auf die rechte Bahn zurückgeführt werden. Gestern wurde das in dieser Form einzigartige Projekt in Deutschland im Beisein von Jugendsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) eröffnet. Die ersten Kinder werden frühestens nächste Woche in dem für 420.000 Mark ausgebauten Gehöft erwartet.
Gitter und Mauern gibt es dort nicht, denn die vom Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerk (EJF) gegründete Wohngruppe „Insel“ versteht sich als Alternative zu einem geschlossenen Heim. Ein neunköpfiges Betreuerteam will den schwierigsten der schwierigen Kinder nicht mit Strafen und Verboten beikommen, sondern möchte mit pädagogischen Mitteln Wärme und Vertrauen schaffen. Der Bauernhof öffnet nicht zufällig jetzt. Die Forderung nach einem geschlossenen Kinderheim ist nicht nur bei CDU und Polizei so populär wie selten zuvor. Nachdem solche Töne auch aus SPD- Kreisen, von Justizsenator Ehrhart Körting, zu hören waren, sah sich Stahmer dazu gezwungen, neue Konzepte zu präsentieren.
Das EJF, eine gemeinnützige GmbH des Diakonischen Werkes, unterhält in Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt bereits zahlreiche Einrichtungen der Jugend,- Behinderten- und Altenarbeit. In einem Wohnprojekt in Frostenwalde bei Schwedt stellt das EJF seit einigen Jahren erfolgreich unter Beweis, wie jugendlichen Straftätern beizukommen ist. Statt in U-Haft zu wandern, werden 14- bis 18jährige schulisch betreut und erhalten eine Ausbildung. „Sie sollen zur Ruhe kommen und dann wieder schnell integriert werden“, sagt EJF-Geschäftsführer Siegfried Dreusicke. Die durchschnittliche Verweildauer in Frostenwalde beträgt zwei Jahre. Über 60 Prozent würden nicht mehr straffällig. Die Rückfallquote von aus der U-Haft entlassenen Jugendlichen betrage dagegen 73 Prozent.
Bei der Gründung des Bauernhofs „Insel“, der 380 Mark pro Kind pro Tag zur Verfügung hat, stand das Projekt Frostenwalde Pate. Die Bewohner werden allerdings deutlich jünger sein. Aufgenommen werden nur delinquente, strafunmündige Kinder unter 14 Jahren, die in Berlin aufgriffen werden, ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben und nicht von harten Drogen abhängig sind. Rumänische „Klaukinder“ sind ebenso ausgeschlossen wie Junkies. „Kinder, die während ihres Aufenthaltes 14 werden, bleiben selbstverständlich auch bei uns“, sagt die 43jährige Diplomsozialpädagogin Helga Kriese, die das Team aus fünf Frauen und vier Männern leitet. Die erfahrenen Sozialpädagogen mit handwerklichen und künstlerischen Zusatzqualifikationen wurden in Frostenwalde weitergebildet. Die Betreuer, die nicht fest im Haus wohnen, sondern sich die Arbeit im Schichtdienst teilen, werden durch eine Lehrerin, einen Hauswart und eine Haushälterin ergänzt. Kein einziger der Betreuer kommt aus Berlin oder war dort als Pädagoge tätig. Die meisten stammen aus dem benachbarten 450-Seelen- Dorf Petershagen. Daß die mangelnde Großstadterfahrung ein Problem im Umgang mit den Kids werden könnte, glaubt EJF-Projektleiterin Siegried Jordan- Nimsch nicht. Der „Kulturschock“ sei explizit gewünscht. „Wir wollen mit ihnen ein anderes Leben leben, als sie gewohnt sind. Was früher war, lassen wir uns erzählen“, freut sich Helga Kriese auf die Arbeit.
Die Kinder, die auf der Straße zu Hause waren und klauten, müßten in jeder Hinsicht einen Neuanfang machen. „Bisher waren sie nachtaktiv und haben am Tag geschlafen. Jetzt müssen sie morgens aufstehen und sich an einen geregelten Tagesablauf gewöhnen“, so Jordan-Nimsch. Dazu gehört der Schulbesuch, die Übernahme von Pflichten in Haushalt, Garten und Hof sowie die Versorgung der Tiere: Schafe, Hunde, Kaninchen, Hühner und ein Hängebauchschwein sollen angeschafft werden. Für jedes Kind steht ein eigenes kleines Zimmer mit Sanitärbereich bereit. Wer lieber auf dem Fußboden schlafen möchte, kann dies in dem ausgebauten Stall tun. Auch der eigene Hund oder die Ratte dürfen mitgebracht werden.
Voraussetzung für den Verbleib auf der „Insel“ ist absolute Freiwilligkeit. „Sonst nehmen die Kinder es nicht an“, so Kriese. Die Jungen und Mädchen werden zwar von ihren Sorgeberechtigten, den Eltern oder einem Vormund des Jugendamtes, eingewiesen, wer aber weg will, wird nicht daran gehindert. „Ich gehe davon aus, daß einige abhauen werden und wir öfters mal einen Neuanfang machen müssen“, sagt Kriese. Allerdings müsse in so einem Fall die Polizei informiert werden. Man sei jederzeit bereit, die Entlaufenen in Berlin wieder abzuholen.
Für Petershagen trägt die „Insel“ dazu bei, die hohe Arbeitslosigkeit weiter zu senken. 1996 wurde hier noch eine Arbeitslosenquote von über 70 Prozent verzeichnet. Durch mehrere ABM- Projekte ist es nach Angaben von Bürgermeisterin Donata Oppelt gelungen, die Quote „um die Hälfte zu drücken“. An dem neuesten AMB-Projekt zur Dorferneuerung wird sich laut Jordan- Nimsch auch die „Insel“ beteiligen. Unter anderem soll eine Bäckerei aufgebaut werden. Für den Fall, daß die Berliner Kids Schwierigkeiten machen sollten, wurde auf einer Bürgerversammlung Vorsorge getroffen. „Wenn wirklich mal ein Auto geklaut wird“, sagt die Bürgermeisterin, „sorgt das EJF für Schadensersatz.“
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