: Ryby und Frytki
Im polnischen Międzyzdroje an der Ostsee tummelt sich eine kleine, aber feine polnische Bürgerschicht. Das Westerland Polens ist Sommerfrische und Treffpunkt: Hier bleibt niemand lange allein ■ Von Carsten Otte
Mitternacht in Międzyzdroje. Vor dem „Scena“ tummeln sich Jungs, die Sonnenbrillen tragen, und Mädels in Miniröcken. Kurz mal frische Luft schnappen, ein wenig schäkern, dann geht es wieder in die Disco. Die Tanzfläche ist immer voll. Es werden Britpop, Pop-Techno und die Songs der einschlägigen Boygroups gespielt. Was in den achtziger Jahren das „American“ für die Teenies und Twens auf der Nordseeinsel Sylt war, das ist für die polnische Jugend das „Scena“ in Międzyzdroje auf der Ostseeinsel Wolin. Mit dem Unterschied, daß die Kids aus der westdeutschen Mittel- und Oberschicht noch im Appartement bei Mami und Papi übernachtet haben, während die polnischen Youngster oft schon mit zwanzig verheiratet sind und an der Ostsee ihren Familienurlaub verbringen. Wer noch nicht unter der Haube ist, fährt ebenfalls nach Międzyzdroje. Einen Partner fürs Leben wird man hier finden. Einsam ist im „Scena“ keiner. Wer fünf Minuten allein an der Bar sitzt, wird angesprochen.
Am Tage geht der Rummel weiter. Am Strand ist eine riesige Plastikrutsche aufgebaut, „I'm so lonely, lonely, lonely, I'm so lonely, lonely in my life“, dröhnt es aus den Lautsprechern, auch die Kids singen den Hit mit, es herrscht Jahrmarktstimmung am Wasser. Wenn das Wetter nicht zum Baden einlädt, wird auf der Bohaterów Warszawy flaniert. Das ist jene verkehrsberuhigte Straße in Międzyzdroje, an der die großen Hotels, die Restaurants, Cafés und Imbißstuben liegen. Damen im schicken Dreß, Herren im Jogginganzug, und die Regeln des Rollenspiels werden genau eingehalten. Der Mann, der Boß, die Frau sein Schmuckstück. Der Weg zum Traualtar ist für die polnischen Ladies der Preis für den Schutz in einer Welt, in der es keine Sicherheit gibt: Der Ehebund ist in den Staaten des ehemaligen Ostblocks wieder wichtig geworden, weil die alten Strukturen der Gemeinschaft sich aufgelöst haben.
Am Morgen, wenn es noch nicht heiß ist, wird der Nachwuchs auf der Bohaterów Warszawy spazierengefahren. So viele Kinderwagen wie in Międzyzdroje sieht man in keinem westeuropäischen Badeort. In den Restaurants dürfen die Babys schreien und die Dreikäsehochs auf dem Boden herumkrabbeln. Kein Wirt käme auf den Gedanken zu mosern. Wenn Gäste darüber meckern, kann man davon ausgehen, daß es sich um Ausländer handelt, zum Beispiel um Tagesausflügler von der zum größten Teil deutschen Nachbarinsel Usedom.
Die Nummer eins auf der Speisekarte ist Ryby, das heißt Fisch, und dazu gibt es Frytki, und das sind Pommes. Heilbutt und Scholle werden ebenfalls im Fett gebraten. Die Küche in Polen ist rustikal. Wer Fisch nicht mag, nimmt Schaschlik vom Grill. Zur Abwechslung geht man ins jüngst eröffnete China-Restaurant. Jedes Gericht wird per Gramm bezahlt. Ganz egal, ob man einen Snack an einer der zahlreichen Imbißbuden schnabuliert oder im vornehmeren „Aurora“ speist. Hundert Gramm Fischsuppe kosten ungefähr drei Zloty, fünfzig Gramm Reis meist einen halben Zloty, und auch für die Alkoholika zahlt man den Grammpreis.
Obwohl in Polen nichts mehr so billig ist wie vor acht Jahren, als Ministerpräsident Rakowski unter dem Druck von Walęsas „Solidarność“ die sozialistischen Produktionsverhältnisse änderte und den D-Mark-Touristen die Tore geöffnet wurden, bleibt für den westlichen Besucher Międzyzdroje ein preiswertes Pflaster. Eine Portion frischer Kaviar (30 Gr.) ist für rund drei Mark zu haben. Für polnische Verhältnisse ist das Nepp, für deutsche sind das Preise wie bei Aldi.
Die polnischen Gäste ärgern sich nicht darüber, daß die Preise in Międzyzdroje verdorben sind. Die jungen Polen legen Wert auf Image und Statussymbole. Alle Marken aus dem Westen sind hoch angesehen. Polnische Firmen, wenn sie nicht sowieso kurz nach der Wende pleite gegangen sind, haben enorme Absatzprobleme. Vom Champagner bis zur Seife wird alles importiert. Und die kleine Bürgerschicht trägt in Międzyzdroje ihren bescheidenen Wohlstand mit echten oder unechten Versace-Brillen und Lacoste- Pullovern zur Schau. Auch einige deutsche Unternehmer haben das Eldorado der polnischen Yuppies entdeckt. Noch lange ist in Międzyzdroje nicht alles verbaut, für die Baulöwen gibt es also noch einiges zu tun.
Die Polen scheinen die Gepflogenheiten der Nachbarn mit Freude zu kopieren. Selbst einen muschelförmigen Konzertpavillon, einen Muszia konzertowa, gibt es an der Strandpromenade in Międzyzdroje, wo im Sommer die Hits der Klassik und der Volksmusik gespielt werden. Im Juli findet in Międzyzdroje das „Internationale Festival des Chorliedes“ statt, und da die Deutschen bekanntlich eifrige Chorsinger sind, wird die deutsche Liedkultur auch ohne Unterstützung des Goethe-Institutes über die Grenze getragen.
Die Bauprojekte in Międzyzdroje dokumentieren den Westbezug auf wenig charmante Weise. Das 1991 eröffnete Hotel „Amber Baltic“ direkt am Strand ist ein relativ häßlicher Betonklotz, der von der Gestalt her an eine moderne Müllverbrennungsanlage erinnert, so daß anzunehmen ist, daß dem Bauherrn die Architektur an der Costa del Sol gefallen hat. Das Hotel verfügt über ein Freibad, ein Hallenbad, eine Sauna, einen Fitneßraum, Konferenzsäle, Tennisplätze, eine Bar, eine Disco, ein Restaurant und ein Café – und deshalb ist das „Amber Baltic“ neben dem Hotel „Slavia“ die nobelste Adresse in Międzyzdroje. Das „Slavia“ war zu kommunistischen Zeiten das beste Hotel am Ort. „Wir haben vieljährige Erfahrung in der Organisation von Symposien, Empfängen, Messen und Ausstellungen“, werben heute die Hotelmanager, was jeder, der das Haus betritt, auch sofort merkt. Der Muff einer vergangenen Ära ist allgegenwärtig, und die vornehm gekleidete Dame an der Rezeption wirkt leicht deplaziert. Im „Slavia“ gibt es sogar ein Casino, doch auch hier wirkt die Simulation des schönen Scheins leicht grotesk. Kaum vorstellbar, daß in den verstaubten Räumen des Casinos jemals Millionen verzockt worden sind.
Wer mit der staatlichen Eisenbahn auf die Insel Wolin fährt, bemerkt sofort, daß die seltsame Glitzerwelt in Międzyzdroje kein Abbild der polnischen Gesellschaft ist. Im Gegenteil. Bahnreisende müssen für gewöhnlich umsteigen und auf Anschlußzüge warten, so daß sie zum Beispiel das zweifelhafte Vergnügen haben, den Stettiner Vorort Dąbie kennenzulernen. Ein Wohnsilo aus einem Guß, fast zwanzig Prozent Arbeitslosigkeit. Die Menschen starren stundenlang aus ihren Wohnzellen auf die Straße, wo sich auch nicht gerade viel tut. Große Reklametafeln versprechen eine bessere Zukunft, an die in Dąbie kaum einer glaubt. Wie in jedem Schwellenland wachsen in Polen die Vorstadt-Ghettos, unbeachtet von der neuen Bürgerschicht. Selbst in Międzyzdroje ist das soziale Gefälle offensichtlich. So mondän sich manche jungen Leute in ihrem Urlaubsort geben, die zerfallenen Häuser am Rande auch dieses Ortes und die grauen Mietskasernen rund um den Bahnhof geben Auskunft darüber, in welcher Krise Polen sich seit Jahren befindet.
Den Sentimentalen ist Międzyzdroje gewiß ein Paradies. Die Jugendstilvillen in Strandnähe stammen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als rings um die Woliner Solquellen ein Kurort aufgebaut wurde. Die Quellen sprudeln noch immer, mit der eisen- und jodhaltigen Lauge werden unter anderem Erkrankungen der Atemwege, diverse Stoffwechselstörungen und Schilddrüsenleiden behandelt. Im Sanatorium „Montomet“ werden die Patienten gut versorgt. In der Mitte der Strandpromenade in Międzyzdroje ragt ein um die Jahrhundertwende errichteter Steg ins Meer. Die Freunde des Pommernlandes weisen gerne darauf hin, daß, als die Deutschen auf Wolin noch das Regiment führten, der Steg den stattlichen Namen „Kaiser-Friedrich- Brücke“ trug. Der Pier wurde im Verlauf der Geschichte mehrmals zerstört und immer wieder aufgebaut, die alten Gebäude aus der Bäderzeit hingegen zerfallen.
Bei Studenten sind diese Häuser nicht nur wegen des Ruinenflairs beliebt. Hier übernachtet man auch am günstigsten. Auf Usedom in den „drei kaiserlichen Seebädern Bansin, Heringsdorf und Ahlbeck“ sieht das etwa ganz anders aus. Die Unterkunft in einer Gründerzeitvilla kostet dort mindestens das Zehnfache. Das magere Angebot regelt den Preis: Denn während in Bansin die „altersschwachen Traditionsgebäude ,Meeresstrand‘, ,Strandhotel‘ und ,Aufbau‘“ abgerissen und in „moderner und der Bäderarchitektur angepaßter Form“ wiederaufgebaut worden sind, fehlt in Międzyzdroje noch das Geld für die schnelle Transformation.
Den Trubel in Międzyzdroje vergißt, wer in Richtung Osten am Strand entlangschlendert. Das Kliffufer ist nicht nur mit fast hundert Metern Höhe das größte, sondern nach Angaben des polnischen „Amtes für Körperkultur und Touristik“ auch das schönste des Landes. Das liegt auch daran, daß der Küstenschutz nicht so betrieben wird wie beispielsweise an der deutschen Nordseeküste, wo mit allerlei Stahl und Beton der „blanke Hans“ nicht aufgehalten, sondern nur der Strand verschandelt wurde. Allerdings spülen die Ostssewellen das Woliner Kliff dermaßen aus, daß die Holztreppen hoch zum „Woliński Park“ ständig verwüstet sind. Jenseits des Kliffs erstreckt sich ein riesiges Naturschutzgebiet, in dem angeblich noch Wildschweine frei herumlaufen sollen. Wer am Strand bleibt, ist jedoch sicher, das Kliff werden die Keiler wahrscheinlich nicht herabspringen.
Im „Woliński Park“ hat der Seeadler, das Wappentier Polens, eine seiner letzten Zufluchtsstätten gefunden. Doch nicht nur seltenes Getier, sondern auch außergewöhnliches Gewächs läßt sich dort bestaunen, z.B. der Strand-Mannstreu. Wer sich für die Tiere und Pflanzen des Nationalparks interessiert, dem sei der Besuch des „Muzeum Pryzyrodnice“ in Międzyzdroje empfohlen. Der Park nimmt mit einer Fläche von rund 4.800 Hektar den größten Teil der Insel Wolin ein. Es handelt sich um ein Waldgebiet mit Moränenhügeln und kleinen Seen. Inmitten des „Woliński Parks“ liegt an einem kleinen Süßwassersee das in kaum einem Reiseführer erwähnte Feriendorf Wiselka. Hier erholten sich einst Funktionäre, und da sie in diesem Falle Geschmack bewiesen haben, lohnt sich der Ausflug zu dem malerisch in die Hügellandschaft eingepaßten Ort.
„PTTK“-Information und Zimmernachweis, ul. Kolejowa 2, PL-72510 Międzyzdroje, Tel: (0048-97) 81080 (Telefonnummer muß überprüft werden, da sich in Polen die Nummern häufig ändern)
Literatur: Reiner Elwers: Die polnische Ostseeküste, Trescher Verlag, Berlin 1996, 190 S., 19,80 Mark.
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