piwik no script img

Leben mit atomarer Goldmine

Seit 30 Jahren leben die Bewohner von Obrigheim von dem Atomkraftwerk. Bürgermeister, Pizzabäcker und AKW-Arbeiter fürchten die Abschaltung  ■ Aus Obrigheim Wolfgang Bauer

Im Gasthof „Zum wilden Mann“ knallen dieser Tage alte Männer die Fäuste auf die Tische. „,Schrotthaufen‘ stand in der Zeitung!“ schimpft einer. „Alles nur Dummschwätzer!“ tröstet ihn sein Sitznachbar. Die Pensionäre des Atomkraftwerkes Obrigheim verstehen die Welt nicht mehr. 30 Jahre lang lieferte der Reaktor in der Neckaraue zuverlässig Strom.

Das Atomkraftwerk Obrigheim war der erste Meiler, der in Deutschland ans Netz ging. Seine Silhouette war Symbol für Fortschritt, Symbol für die Erfüllung eines alten Menschheitstraums von erschwinglicher und sauberer Energie. Doch nun deutet vieles darauf hin, daß er nach den Bundestagswahlen im September von einer rot-grünen Regierung stillgelegt wird. Obrigheim steht bei allen Ausstiegsszenarien auf der Abschußliste immer an erster Stelle. Die 3.900-Seelen-Gemeinde im Neckar-Odenwald-Kreis fürchtet einen wirtschaftlichen Niedergang.

Der Mann kann einem leid tun. Er heißt Rainer Schäfer und ist SPD-Ortsvereinsvorsitzender in der Atomgemeinde. „Es ist schwierig“, sagt er mit traurigem Blick. 320 Menschen arbeiten direkt im Meiler, wirtschaftlich von ihm abhängig ist aber wohl jeder zweite im Dorf. Die örtliche SPD stand immer hinter diesen Arbeitsplätzen, ja, es war sogar ein sozialdemokratischer Bürgermeister, der die Atomindustrie ins Dorf brachte. Heute klebt Schäfer 50 Wahlkampfplakate für einen SPD- Kanzlerkandidaten, dessen Regierung Obrigheim vermutlich endgültig vom Netz nehmen wird. Ein Dilemma? Schäfers Rezept: „Wir sparen den Teil des Programms einfach aus.“ Gegen das Werk zu opponieren, könne sich die örtliche SPD jedenfalls „nicht leisten“.

„Soziale Kontamination“ nennt Walter Sieber von der Klägergemeinschaft Obrigheim die Verflechtung zwischen Kraftwerk und Gemeinde. Nur wenige Einwohner trauten sich, das Abschalten des alten Reaktors offen zu fordern. Wer es wagt, müsse mit Konsequenzen rechnen. „Wir brennen dir dein Haus ab!“ wurde Sieber anonym bedroht. Einem anderen Atomkraftgegner wurde vor einigen Jahren ein Holzkreuz vor die Haustür geschleppt. „Da wird schon mit harten Bandagen gekämpft“, sagt Sieber.

Die Kettenreaktion hinter der meterdicken Stahlbetonkuppel sichert der Gemeinde beachtliche Steuereinnahmen. Insgesamt zahlt das Atomkraftwerk fünf Millionen Mark Gewerbe- und Körperschaftssteuer sowie zehn Millionen Mark Umsatzsteuer im Jahr. „Nach einer möglichen Stillegung könnten wir unsere Standards nicht mehr halten“, wirbt Bürgermeister Roland Lauer für einen Betrieb über die Bundestagswahlen hinaus. „Die Konsequenzen wurden bislang noch nicht bedacht.“

Die Steuergelder des Atommeilers sind überall im Ort präsent: Den Bau von Rathaus (dessen Treppenaufgang ein Atomium ziert), Gemeindehalle, Ladenpassage und Schulzentrum hätte das ländliche Obrigheim allein nie finanzieren können. Lauer: „Das Verhältnis zwischen Kraftwerk und Gemeinde ist sehr vertrauensvoll.“ Zweifel an der Sicherheit des AKWs erlaubt man sich in Obrigheim nicht.

Der Pizzabäcker bangt um seine Großaufträge ins Atomkraftwerk, der Hotelier überlegt, nach der Stilllegung zwei Arbeitsplätze zu opfern. „Mehr oder weniger“, sagt Restaurantbesitzer Angelo Gurrieri, „lebt hier jeder Anwohner davon.“ Alternativen zum Atommeiler gibt es nicht viele in der strukturschwachen Region. „Sagen Sie mir, wie ich ohne Atomkraftwerk meine Leute beschäftigen soll. Sagen Sie mir, wie?!“ sagt AKW-Betriebsratsvorsitzender Herbert Schneeweiß händeringend. Die Ausstiegspläne von Gerhard Schröder werden im Werk heiß diskutiert, denn alle wissen: Dieses Mal könnten es die Atomkraftgegner schaffen. „Wir fürchten, daß wir zum politischen Bauernopfer werden.“

Pläne für den Fall, daß das Werk vorzeitig abgeschaltet werden muß, existieren noch keine, versichert Kraftwerkssprecher Karllfried Theilig. Die „Reaktorfahrer“ an anderen Stellen der „Energie Baden-Württemberg“ unterzubringen, sei jedenfalls nicht so einfach. Denn auch ohne erzwungene Stillegungen baut der Konzern kräftig Arbeitsplätze ab. Wie es heißt, soll die Belegschaft allein im Atomkraftwerk Philippsburg von 780 auf 480 reduziert werden. Der Betriebsrat möchte demnächst beim Vorstand vorstellig werden, um ihm die Obrigheimer Interessen nochmals in Erinnerung zu rufen.

Wie viele Mitarbeiter für einen späteren Abriß der Atomruine benötigt werden, darüber gibt es unterschiedliche Angaben. Sie schwanken zwischen 50 und 250. Nach zirka 20 Jahren hätten die Obrigheimer wieder eine idyllische Neckaraue – oder ein nagelneues Gasturbinenkraftwerk. Der Bürgermeister liebäugelt bereits damit.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen