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Kommission kritisiert Familienpolitik der Koalition

■ Bericht: Die Änderungen in der Steuer- und Verteilungspolitik gingen zu Lasten der Familien

Bonn (taz) – So einfach, wie Familienministerin Claudia Nolte es dem zehnten Kinder- und Jugendbericht vorwirft, haben es sich die sieben Experten der Sachverständigenkommission dann doch nicht gemacht: Sie beziehen nicht allein die Zahlen über die Haushalte in ihre Analyse zur Kinderarmut mit ein, die weniger als die Hälfte des durchschnittlichen deutschen Einkommens zur Verfügung haben. Vielmehr spricht der Bericht davon, daß es „angesichts der unterschiedlichen Definitionen und Meßverfahren (...) nicht möglich ist, die zutreffende Zahl für das Ausmaß an Armut unter Kindern und ihren Familien zu ermitteln“. Doch trotz dieser fehlenden eindeutigen Statistiken gebe es „grundlegende, durch sämtliche Analysen gestützte Aussagen, die zeigen, daß Kinderarmut ein gravierendes Problem in Deutschland ist“.

Im bezug auf ein gesamtdeutsches Durchschnittseinkommen fielen 1992 rund 22 Prozent der Jugendlichen bis 16 Jahren im Osten und 12 Prozent im Westen unter die Armmutsdefinition. In Ostdeutschland stieg die Zahl der Armen für die Kategorie „Jugendliche unter 18 Jahren“ von 6,8 auf 14 Prozent von 1994 auf 1995 – in Gesamtdeutschland von 11,2 auf 15,4 für denselben Zeitraum.

Herangezogen haben die Experten unter anderem die Armutsuntersuchungen des Deutschen Caritasverbandes, des Deutschen Gewerkschaftsbundes und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Diesen Studien aus den Jahren 1993 und 1994 lagen „komplexe Armutskonzepte zugrunde“. Dabei ist ein zentrales Merkmal von Armut die Einkommensarmut: Das kann auf der einen Seite der Haushalt sein, der Sozialhilfe bezieht, oder eben die Familie, die fünfzig Prozent Durchschnittseinkommen unterschreitet. Dazu gibt es die Personen, die aus Scham oder Unkenntnis erst gar keine Sozialhilfe beantragen: Experten schätzen, daß auf zwei Sozialhilfeempfänger nochmals ein bis zwei Berechtigte kommen. Doch Kinderarmut wird laut Studie von mehr bestimmt als von fehlendem Einkommen: „Kinder, die bei einer alleinerziehenden Mutter aufwachsen, Kinder in den verschiedenen Gruppen von Zuwandererfamilien und Kinder mit vielen Geschwistern sind besonders häufig von Armut betroffen.“ Die Benachteiligung durch Einkommen und Lebenssituation zusammen ergebe eine „Situation vielfältiger Unterversorgung“. Die Konsequenz für die Kinder: Sie haben aufgrund schlechterer Bildung kaum Chancen auf einen guten Job, aufgrund schlechterer Ernährung oft Probleme mit der Gesundheit und aufgrund fehlender kultureller Angebote nicht die Gelegenheit, ihre Phantasie und Fähigkeiten zu entwickeln. 800 Mark pro Monat müßte einem Kind für seinen soziokulturellen Mindestbedarf zur Verfügung stehen. Mindestens die Hälfte, so fordert die Studie, sollen die Eltern im Rahmen des Familienlastenausgleichs erstattet bekommen. Außerdem soll ein Existenzminimum von 7.500 Mark steuerlich frei bleiben. Und besonders betonen die Experten, daß auch Kindern von Flüchtlingen die gleichen Sozialhilfesätze wie deutschen Kindern zustehen sollen. Zur Zeit erhalten Flüchtlingskinder mit Sätzen zwischen 190 bis 395 Mark pro Monat etwa 20 Prozent weniger als im normalen Sozialhilfesatz vorgesehen: „Kinder werden durch diese Politik massiv belastet“, heißt es in der Studie. Die Studie greift ganz offen die Familienpolitik der jetzigen Bundesregierung an: „(...) viele Änderungen von Steuer- und Versicherungsregelungen sind zu Lasten der Familie gegangen.“ Die freie Gesundheitsvorsorge und die freie Bildung seien unerläßlich. Und: Da vor allem Alleinerziehende und hier in der Mehrzahl Frauen überdurchschnittlich häufig und dann auch länger arm sind, müßten die Betreuung in den Schulen, die Rückkehr an den Arbeitsplatz und die volle Anrechnung von Erziehungszeiten bei der Rente garantiert werden. Cornelia Fuchs

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