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Die Panne des Cineastenzugs

Patrice Chéreaus Film „Wer mich liebt, nimmt den Zug“ ist ein Theaterstück in drei Akten über die Liebe der Männer. Es scheitert an der Übergröße von Jean-Louis Trintignant und dem allzu dick aufgetragenen Selbstmitleid Chéreaus schwuler Figuren  ■ Von Niklaus Hablützel

Die Hölle sind die anderen, das ist in Frankreich noch besser bekannt als in anderen Ländern, und so beginnt denn Patrice Chéreaus neuer Film mit einer Bahnfahrt, die noch einmal in den Abgrund jener hoffnungslos geschlossenen Gesellschaft zu führen scheint, in der einst Jean-Paul Sartre diese Erfahrung zum Thema gemacht hatte. Es ist eine sehr französische Erfahrung, die niemals auf eine gewisse Eleganz des Benehmens und auf Eloquenz noch in der größten Niedertracht verzichten kann. Ein gutes Dutzend Personen sind es, die diesmal eingesperrt werden in einen Eisenbahnzug der französischen Staatsbahnen, der fahrplanmäßig von Paris-Gare d'Austerlitz nach Limoges fährt. Kein blindes Schicksal hat sie zusammengeführt, sondern der hinterhältig formulierte letzte Wille des Malers Jean-Baptiste Emmerich. „Wer mich liebt, nimmt den Zug“, so lautet das Testament, das auch dem Film den Titel gab, nämlich eben jenen Zug nach Limoges, denn dort, in der Provinzstadt der Textilfabrikanten und Schuhmacher, in der er aufwuchs, will er nun auch begraben werden.

Sein Tod kam überraschend und gibt zu Spekulationen Anlaß. Doch selbst wenn er natürlich war, wird er mit diesem Testament zur postumen Rache, denn nun sitzen sie zusammen, die ihn liebten, und gehen sich auf die Nerven. Der schwule Jean-Baptiste hat sie schon zu Lebzeiten gegeneinander ausgespielt, die Schüler gegen die Liebhaber, den Enkel gegen seine Ehefrau, er war ein mäßiger Maler, aber ein exzellenter Intrigant. Der Zug ist ohnehin überfüllt, unbequem, und nun das. Lange hat man sich nicht mehr gesehen, ging sich aus dem Weg, Eifersucht, Neid, Verachtung und auch blanker Haß stehen zwischen ihnen allen. Im Auto wird die Leiche zur letzten Ruhe überführt, es fährt neben den Bahngeleisen auf der Landstraße, die längste Zeit in Sichtweite der Trauergemeinde. Nein, sie kann diesen Toten nicht geliebt haben, auch die Frauen nicht, von denen er sich umschwärmen ließ. Es gab fatale Beziehungen, verzweifelte, lustvolle, verschwiegene, wütende, Liebe jedoch nicht, denn eben darin besteht die letzte Intrige des Toten: In diesem Zug sind seine Opfer noch einmal und diesmal vollkommen schutzlos ihren eigenen Lügen ausgeliefert.

So könnte der Zug nach Limoges immer weiterfahren, sogar die 120 Minuten dieses Films wären damit womöglich zu füllen. Chéreau, mehr aber noch sein Kameramann Eric Gautier inszenieren in den schwankenden und schaukelnden Waggons eine entnervend präzise, beschleunigte Version der alten Hölle, die die anderen sind. Sie besteht aus konstantem Lärm, aus Kindergeschrei, aus aggressiven Gesprächsfetzen, die in der Enge der Sitzreihen ersticken, und einer Landschaft, die im gleißenden Sonnenlicht an den Fenstern vorbeifliegt. Es gibt kein Entrinnen, der seinem Ziel entgegenstürzende Zug ist der legitime Nachkomme jener altmodischen, bürgerlichen Salons, in denen einst ein Strindberg oder ein Albee die Lebenslügen ihrer Helden gegen die Wand fahren ließen.

Doch Chéreau, der Theater- und Opernregisseur, mißtraut diesem rein cineastischen Zug. Mehr als ein erster Akt des eigentlich gemeinten Dramas darf dieses Kunstwerk der Kameraführung nicht sein. Es bietet zuwenig Bühnenauftritte, nie kann jemand zur Tür hereinstürzen, es gibt keine Treppen und keine Seitengänge. Schon mitten auf der Strecke muß der Kinozug deshalb eine Panne haben und anhalten, damit die Schauspieler auf dem Bahnsteig einer Kleinstadt ein paar große Gesten üben können. Und bald danach kommt er wirklich nur in Limoges an, der zweite Akt beginnt, der, wenig überraschend, den toten Maler tatsächlich unter die Erde bringt.

Es folgt der dritte, längste und für Chéreau wohl wichtigste Akt des Dramas, das sich nun immer ungeschminkter als schwules Bekenntnistheater zu erkennen gibt. Die verlogene, verzweifelte, gescheiterte Liebe zum toten Jean- Baptiste wie auch die ebenso verlogenen, verzweifelten und immer noch scheiternden Liebesverhältnisse der Trauernden untereinander sind, so wird sich jetzt zeigen, nur Spielarten einer einzigen großen Sehsucht: der Sehnsucht nach Normalität, nach einem beständigen, keineswegs sexuellen, sondern familiären Glück.

Sie ist eine Illusion, aber es mag sein, daß Männer ohne sie keine Männer lieben können, selbst wenn die gesellschaftliche Diskriminierung nachläßt. Ein bißchen anrüchig ist das homosexuelle Paar noch immer in den Augen der anderen, die so viel selbstverständlicher an der Liebe auch leiden dürfen. Aber ein Film ist das allein noch nicht.

Eine abendfüllende Rolle kann der Schauspieler Pascal Greggory auch aus der dominierenden Figur des François, des besten Schülers des Toten, nicht machen. Eine schöne Seele offenbar, die aus verletztem Stolz fortwährend die Trauergemeinde demütigen muß. Doch wenn beim Strichjungen Bruno Tränen fließen und bei anderen die Stimme erstickt, falls man sich nicht doch lieber ein paar Obszönitäten an den Kopf wirft, dann ist das eine bloß rührselig, das andere bloß zotig und skandalös höchstens in dem künstlichen, übertrieben nostalgischen Ambiente des Finales, das Chéreau seiner Lebensbeichte gönnt.

Der rasend moderne Zug ist endgültig ausrangiert. Zur Nachfeier des Begräbnisses versammelt sich die Trauergemeinde nun doch im Salon, nämlich in der Villa der Familie Emmerich, der Schuhfabrikanten von Limoges. Hier lebt Lucien, der Bruder des toten Malers, der die überalterte Traditionsfirma in die Pleite geführt hat. Unvermeidlich, daß er seinen Bruder zeitlebens haßte. Und ebenso unvermeidlich ist die Trauergemeinde eine Katastrophe, die ihm der tote Bruder aus Paris auf den Hals hetzt. Mehr als ein schrecklich epigonales Kammerspiel ist es nicht, das Chéreau nun mit all den Theaterklamotten inszenieren will, die ihm vorher so gefehlt haben. Immer mal wieder kann jetzt jemand aus dem strömenden Regen draußen hereinstürzen oder über den Flur huschen und die falsche Tür öffnen oder die richtige im falschen Moment.

Es ist albern, so etwas zu filmen. Das weinerliche Elend der Schwulen und Heuchler wäre nicht weiter der Rede wert, hätte Chéreau nicht den großen, stets als schwierig bekannten Jean-Louis Trintignant dazu überredet, in diesem Theater mitzuspielen. Mit greisem Gesicht nimmt er dem Regisseur den ganzen Film aus der Hand. Trintignant spielt den alten Lucien Emmerich, beinahe unmerklich führt er die Figur schon auf dem Friedhof ein, zu Hause, in der heruntergekommenen Fabrikantenvilla, entwickelt er sie zu monumentaler, mitleidsloser Größe. Ein Patriarch kehrt zurück, ein verbitterter, betrogener Mann, auch er hat seine Rechnung zu begleichen mit diesem feinen Bruder, der doch auch ein Versager war, nicht weniger als er selbst, der gescheiterte Unternehmer. Und so rechnet er mit der Trauergesellschaft ab, die ihm nicht nur dieser Bruder, sondern auch der Regisseur ins Haus geschickt hat.

Es bleibt nichts übrig davon. Trintignant braucht ein Lächeln und eine Handbewegung, und die anderen stehen da wie dumme, ewig quengelnde Kinder. Aber er spielt nicht nur Chéreaus Schauspieltruppe an die Wand. Er will mehr, er will zeigen, was ein Film über Männerliebe wäre, wenn man sie nicht bloß bejammerte und zerredete. Ein Film von Louis Malle wäre das vielleicht oder von Resnais, und weil Chéreau davon so gar nichts versteht, ist es eben ein kleiner Film von Trintignant geworden.

In einer Schlüsselszene läßt er seinen Lucien den Transvestiten, der erst auf dem Friedhof zur Trauerfamilie stieß, Damenschuhe aus der eigenen Fabrikation anprobieren. Der weibische junge Mann gefällt diesem Lucien, er ist glücklich, später wird er für ihn eine kostbare alte Flasche Wein öffnen. Unmöglich in jeder Hinsicht ist diese aufkeimende Liebe, doch Trintignant spielt sie aus, unbarmherzig gegen sich selbst, sein Greisengesicht und die Peinlichkeit dieser Rolle, leise, aber doch so deutlich und einfach, daß sein Partner darauf antworten kann, ebenso einfach, staunend, angerührt, ein bißchen ungeschickt und kichernd – wie anders soll jemand damit fertig werden?

Niemals hat dieser Schauspieler das von Chéreau lernen können, es ist das Echo von Trintignants Spiel. Der Abstand zwischen der Tragödie dieses alten Mannes und dem Selbstmitleid der Schwulen von Chéreau ist so unüberbrückbar groß, daß der Regisseur am Ende nur noch die Trümmer seines Films aufsammeln kann. Ein paar kriegen sich doch noch, der sensible Zyniker fährt im Taxi zum Bahnhof, vermutlich zurück nach Paris, in die Hölle der anderen. Plötzlich ist es nötig, den Bahnhof von Limoges aus der Luft zu zeigen, niemand versteht warum, einen Augenblick lang kommt noch einmal Trintignant ins Bild, er steht am Fenster seiner Villa und schaut hinaus. Aber da ist nichts mehr zu sehen, es ist vorbei, und man bedauert, daß Chéreau den Mut nicht gehabt hat, die Liebe der Männer ernst zu nehmen. Er hat nur einen hübsch traurigen Film darüber drehen wollen. Zum Glück ist er damit bei Trintignant gescheitert.

„Wer mich liebt, nimmt den Zug“. Regie: Patrice Chéreau. Mit Jean- Louis Trintignant, Pascal Greggory, Valéria Bruni-Tedeschi u.a. Frankreich 1997, 120 Min.

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