■ Die deutsche Erinnerungskultur drehte sich lange um sich selbst. Nun wollen deutsche Versicherungen Opfer des NS-Regimes entschädigen
: Ein nicht ganz freiwilliger Lernprozeß

„Die gönnen sich in Berlin ein Holocaust-Denkmal. Und uns lassen sie hier vergammeln. Wenn sie die Millionen wenigstens für einen echten Friedhof ausgeben würden. Aber es muß ja Kunst sein. Oh, die Deutschen haben schon immer viel übrig gehabt für das Wahre, Gute und Schöne!“

So spottete zu Anfang dieses Jahres Arnold Mostowicz, Vorsitzender des polnischen Verbandes jüdischer Kriegsveteranen und Verfolgten des NS-Regimes, auf einem Treffen in Warschau. Nachzulesen in der taz-Reportage Gabi Lessers vom 24. Februar. Jetzt wird das Mahnmal-Projekt langsam, aber sicher im Berliner Modder abgesenkt, während die Überlebenden von KZ-Haft und Verfolgung endlich etwas Land sehen und sogar die längst totgeglaubte Frage der Entschädigung für Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkriegs wiederauferstanden ist. War Arnold Mostowicz' Urteil voreilig? Ja und nein.

Recht hat er gehabt, wenn er den Narzismus geißelte, mit dem die Deutschen zehn Jahre lang über die Möglichkeit/Unmöglichkeit der ästhetischen Bewältigung des Massenmordes an den Juden Europas debattierten, während über die Forderungen der Überlebenden, falls sie das Pech gehabt hatten, in Osteuropa hängengeblieben zu sein, mit fast allgemeinem Stillschweigen hinweggegangen wurde. Es war eben weit weniger aufwendig, das jüdische „Eingedenken“ zu trivialisieren, als sich der noch lebenden Opfer zu erinnern. Und wenn schon ein Mahnmal, dann eins, das in seiner Großartigkeit der Größe des deutschen Verbrechens nicht nachsteht.

Unrecht hat Mostowicz mit seiner Prognose behalten, die offenen Entschädigungsfragen würden auf die lange Bank geschoben, bis auch noch der letzte potentiell Begünstigte das Zeitliche gesegnet hat. Aber wie ist dieser Irrtum zu erklären, und welche Schlußfolgerungen haben wir aus der erfreulichen veränderten Sachlage zu ziehen?

Die gängigste Interpretation, nach der die plötzliche Nachgiebigkeit von Banken, Versicherungen und neuerdings auch Industrieunternehmen hierzulande die Folge der Teilkapitulation der Schweizer Banker ist, verschiebt nur das Problem. Warum sind diese steinharten, jahrzehntelangen Leugner jeder Bereicherung am jüdischen Vermögen in der Schweiz plötzlich eingeknickt? Ein Teil der Antwort liegt auf der Hand: Es ging ums Geschäft, speziell um den amerikanischen Markt. Aber warum haben sich, fünfzig Jahre nach Kriegsende, so viele Politiker und Finanzbeamte in den Vereinigten Staaten zusammengefunden, um Credit Suisse und USB notfalls durch Boykottdrohungen in die Knie zu zwingen? Und warum fühlen sich Politiker und Geschäftsleute anderer Länder von ihrem Beispiel angesprochen?

Klar, die Hauptakteure sind von der Bühne ihrer Untaten abgetreten, da kostet es wenig, sich nachträglich etwas von ihnen abzusetzen. Vor 1996 wäre es undenkbar gewesen, in einer von der Deutschen Bank in Auftrag gegebenen Untersuchung Herrmann Josef Abs als Wegschauer und Karrieristen zu porträtieren. Gleiches trifft auf die Justiz zu, einschließlich der deutschen. Jetzt gehört nicht viel dazu, die Spruchpraxis von Richtern zu geißeln, die der gleichen Generation angehörten wie die Finanz- und Industriebosse der Kriegs- und Nachkriegszeit. Entscheidungen hoher und höchster Gerichte eröffnen bei uns jetzt für die Opfer den individuellen Klageweg. Verjährung? Londoner Schuldenabkommen? Frühere Verzichtserklärungen osteuropäischer Regierungen? Keine der bewährten Argumentationen ist mehr wasserdicht.

Natürlich fällt es einer neuen Managergeneration und ihrem Widerpart in den staatlichen Organen leichter, „die Front zu begradigen“, eine Schuld einzugestehen, die nicht die ihre war. Schließlich weiß auch eine Nachwuchsführungskraft, daß die Degussa nicht nach 1945 aus Persilschaum geboren wurde und zur Corporate Identity die gesamte Firmengeschichte gehört. Aber solche Einsicht ist kein Firmenprodukt, nicht Ergebnis einer neuen „Kultur der Verantwortung“. Es geht um Anpassungsprozesse an eine veränderte gesellschaftliche Wahrnehmung. Und das ist gut so.

Noch vor wenigen Jahren fürchteten nicht wenige Wohlmeinende, der Kampf um die Erinnerung werde härter. Sie sahen den Siegeszug des allgemeinen Vergessens, wenn die letzten Opfer und Zeugen der Naziverbrechen weggestorben, wenn an die Stelle des lebhaften Gedächtnisses der Generationen das blasse kulturelle Gedächtnis getreten sei. Aber entgegen diesen Befürchtungen hat auch die den 68ern folgende Generation sich dem Entsetzen ausgesetzt, verspürt fast körperlich das Grauen des Bruchs mit aller Humanität. Und im Unterschied zu den 68ern, die die Täter beim Namen nannten, bestehen die Sensiblen unter den Jungen jetzt darauf, daß auch die Opfer einen Namen haben, jedes von ihnen. Unter denen, die am Holocaust-Gedenktag in Berlin Vor- und Nachnamen der Deportierten verlesen, sind nicht wenige Junge, die der „Solidarität der Erschütterten“ folgen, von der der tschechische Philosoph und demokratische Dissident Jan Patocka gesprochen hat.

Diese neue Sensibilisierung ist auf Minderheiten beschränkt, sie sickert nicht einfach durch bis in die Chefetagen. Aber sich für die Entschädigung der überlebenden Opfer einzusetzen, ist keine so aussichtslose Sache mehr wie in den 80er Jahren, als sich eine Handvoll Grüne und SPDler an ihr die Zähne ausbissen. Natürlich hatte die Bundesregierung gehofft, sich und der deutschen Wirtschaft mit einer Reihe von Stiftungen, sprich: mit der Einrichtung eines Almosensystems für Osteuropas Juden, das gesamte Thema vom Hals zu schaffen. Aber das klappte nicht. Jetzt endlich können auch die Zwangsarbeiter, die für ihre jahrelange Sklavenexistenz keinen Pfennig Lohn gesehen haben, auf Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit rechnen. Das ist um so bedeutsamer, als die Zwangsarbeiter weder in den Regierungen ihrer Heimatländer noch in den Reihen ihrer Emigranten noch kraft ihrer eigenen Zusammenschlüsse über irgendeine nennenswerte Schlagkraft verfügen. Ganz abgesehen davon, daß es bislang niemand für nötig befunden hat, ihre Verbände in irgendwelche Verhandlungen einzubeziehen.

Noch ist nichts entschieden, noch leistet die Ablehnungsfront, angeführt von den IG-Farben- Nachfolgern, hinhaltenden Widerstand. Herzlichen Dank Richtung New York und Zürich, aber: „Uns aus dem Elend zu erlösen, müssen wir schon selber tun.“ Christian Semler