Kein sozialistischer Sprungwurf

An der Leipziger Universität werden auch heute noch Trainer aus aller Welt mit dem Know-how aus dem einst erfolgreichen DDR-Sportsystem geschult  ■ Von Jan und Peer Vorderwülbecke

Die Siege des Sozialismus sind der Grund, warum Javier Jirón im März 1998 nach Leipzig gekommen ist. Der fröhliche Mann mit dem dezenten Bauchansatz ist Trainer des nicaraguanischen Frauenhandballteams. Fünf Monate hat er auf das Abschlußexamen an der Leipziger Uni hingearbeitet, dann hielt er das Zeugnis für den erfolgreich absolvierten Intensiv-Trainerkurs in den Händen. „Mit diesem Zertifikat habe ich gute Chancen, in zwei Jahren zum Cheftrainer der Männermannschaft zu werden“, glaubt Javier Jirón.

Geballtes Expertenwissen zu Sportpsychologie, Sportmedizin, Trainingswissenschaft und Sportpädagogik wird fünf Monate lang vermittelt. Selbst wer die Prüfung nicht besteht, kann sich Hoffnungen machen auf einen Karrieresprung in der Heimat. Im letzten Jahr hat Lote Buruka aus Simbabwe den Handballkurs nicht bestanden, weil er zweimal durch die Theorieprüfung gefallen war. Trotzdem ist er mittlerweile Nationaltrainer in seinem Land.

Leipzig mit seiner Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) galt vor der Wende weltweit als Zentrum für geballtes Handballwissen. Die glorreichen Zeiten sind schon ein paar Jahre her, aber die Sportler kommen immer noch aus allen Teilen der Welt in die ehemalige Goldmedaillenschmiede. „Früher dauerte das Programm neun Monate“, sagt Ausbildungsleiter Dr. Axel Feldmann, „da waren natürlich auch DDR-Kunde und Marxismus-Leninismus mit auf dem Stundenplan.“ Das wurde nach der Wende gestrichen. Der Kurs hat aber seine Qualität erhalten, denn das Programm in den übrigen fünf Monaten ist von den sportwissenschaftlichen Lehrinhalten nahezu gleich geblieben: Solide DDR-Methodik, mit der man wohl auch in zwanzig Jahren überall noch die wichtigsten Geheimnisse des Handballs erklären kann. Für Sportwissenschaftler wie Feldmann ist das auch völlig logisch: „Es gibt keinen sozialistischen Sprungwurf.“

Das Auswärtige Amt hat nach der Wende schnell erkannt, daß man mit der Unterstützung des Leipziger Programms zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen kann. Im Sportbericht der Bundesregierung liest sich das so: Das Programm wird finanziert, „weil die Kurse sich großer Beliebtheit in der Dritten Welt erfreuen und darüber hinaus ein innerdeutsches Zeichen zugunsten des Sports in den neuen Bundesländern setzen“. Also ein wahres Entwicklungshilfeprojekt. Sportwissenschaftliche Erkenntnisse made in East Germany sind offensichtlich immer noch Markenartikel, die im Ausland sehr hohes Ansehen genießen.

In einem weltweiten Werbespot für diese Ware müßte auch Paul Thiedemann vorkommen. Der ehemalige DDR-Nationaltrainer wurde nach der Wende vom DHB in die Wüste geschickt. Der Ägypter Hassan Mustafa lockte ihn als Nationaltrainer an den Nil. Mustafa hat an der DHfK promoviert und wußte um die Qualitäten des Leipziger Handballexperten. Der Erfolg dieser Zusammenarbeit ist überzeugend: Ägypten ist inzwischen an Deutschland vorbei in die Weltspitze vorgedrungen. Das Klischee „deutsche Tugenden und arabischer Spielwitz“ drängt sich auf.

„Ja, die Disziplin, die spielt bei uns schon eine große Rolle“, sagt Dr. Lothar Fährmann, der den Kurs an der Leipziger Uni leitet. „Taktisch auf dem Spielfeld, aber auch, wenn es um das Einhalten der Seminarzeiten geht“, grinst Fährmann etwas verschmitzt und fügt hinzu: „Spätestens nach zwei, drei Wochen wissen die, was wir hier von den Teilnehmern erwarten.“ Fährmann hat selbst in Indien, Libyen und in den Arabischen Emiraten gearbeitet und weiß, wie er die deutsche Sachlichkeit am besten vermitteln kann.

„Klar, Ballbehandlung und Reaktionsschnelligkeit sind besser bei uns in Nicaragua“, sagt Javier Jirón. „Schließlich spielen die meisten Kinder Handball auf einem staubigen Lehmboden, der total holprig ist.“ In Leipzig gibt es keinen einzigen Lehmbodenplatz, dafür aber mehr Sporthallen als in ganz Nicaragua. Das hat Jirón schon ziemlich beeindruckt, als er hierher gekommen ist. Inzwischen hat er sich dran gewöhnt, und lachend fügt er hinzu: „Wenn es bei uns auch so kalt wäre wie in Deutschland, dann würden wir bestimmt auch nur in der Halle spielen.“

Die Kälte in den Wintermonaten war eine der einschneidendsten Deutschlanderfahrungen für den Nicaraguaner. Obwohl er hauptsächlich zwischen der Sportfakultät und dem nahegelegenen Wohnheim pendelte, hat er sich sein Deutschlandbild gemacht. Deutsche hat er dabei, auch wegen der Sprachschwierigkeiten, kaum kennengelernt.

Dennoch lobt er die Gastgeber wegen jener Eigenschaften, die wohl auf der ganzen Welt für deutsche Erfindungen gehalten werden: Zuverlässigkeit, Sauberkeit und Ordnung. Nein, schlechte Erfahrungen habe er als Ausländer nicht gemacht. „Aber ich verstehe die Leute ja auch nicht.“

Die fachlichen Vorträge der deutschen Professoren werden von einer Dolmetscherin übersetzt, für den Sprachkurs sind nur zwei Stunden pro Woche vorgesehen. „Deutsch lernen steht hier nicht an erster Stelle“, sagt Ausbildungsleiter Axel Feldmann, „wir wollen ja in erster Linie Handballwissen vermitteln.“ Seit 1964 wird das gemacht, seit 1969 ist Feldmann dabei. Damals waren es Länder, die mit der Parole „Von der DDR lernen heißt siegen lernen“ keine Probleme hatten. Heute werden die Teilnehmerländer nach Kriterien ausgewählt, die das Auswärtige Amt bestimmt. Sozialistische Länder sind aber nicht grundsätzlich ausgeschlossen.

„Das ist schon komisch mit dem Sozialismus, oder?“ sagt Javier Jirón. Das Ende des Sozialismus scheint ihn nicht sonderlich betroffen zu machen. Und das, obwohl er eine solide sozialistische Ausbildung genossen hat. Während des Bürgerkrieges in Nicaragua flohen er und seine Geschwister nach Rußland und Rumänien. Jirón landete auf Kuba und ging dort auf eine Schule für Sportlehrer. Damals war er gerade 13. Jetzt ist er 24 und seit vier Jahren wieder in Nicaragua. Eine Karriere als Handballer hat er gar nicht erst angestrebt. „Es ist ein Vorurteil, daß die Nicas alle klein sind. In unserer Nationalmannschaft sind viele Zwei-Meter- Männer“, sagt er. Das soll wohl eine Art Entschuldigung sein, denn einem solchen Hünen reicht Jirón gerade mal bis unter die Achseln. Trotzdem spielt er Handball, und zwar bei Maquineria Roja in der ersten nicaraguanischen Liga. „Aber wir haben auch nur eine Liga“, grinst er.

Wie lange das Programm noch weiterläuft, ist ungewiß. Zwar wird es in der Dritten Welt gut angenommen, aber die Gelder werden immer nur für einen Zeitraum von zwei Jahren bewilligt. Trotzdem ist Dr. Axel Feldmann, Leiter des Geschäftsbereichs internationale Beziehungen an der Sportfakultät, zuversichtlich, daß die Kurse auch im nächsten Jahrtausend angeboten werden. Erstmals gibt es demnächst Kurse auf russisch, auch wenn die Länder der ehemaligen Sowjetunion keine Entwicklungsländer sind. Aufgrund des hohen sportlichen Potentials hofft man jedoch auf eine positive Resonanz.

Auf jeden Fall sollte das Potential höher sein als bei einem arabischen Kurs vor einigen Jahren. Damals fiel der Präsident des jemenitischen Schwimmverbandes durch eine ganz besondere Eigenschaft auf: Er konnte nicht schwimmen.