: Doktor Knitter und die Kasse
Es gibt ihn noch, den einfühlsamen Hausarzt, der seine Patienten kennt und nicht nur ihre Krankheit behandelt. Doch gerade mit dieser Leistung verdient er kein Geld mehr ■ Von Daniela Weingärtner
Die Vorabendserie könnte „Landarzt Doktor Knitter“ heißen. Heile Welt, hohe Quoten: der Titelheld ein energiegeladener Patriarch von 58 Jahren, schmale Goldrandbrille, asketisches Gesicht. Verheiratet mit einer tüchtigen Arztfrau, Mutter seiner vier Kinder, Großmutter seiner sechs Enkel.
Wenn Hansgeorg Knitter spricht, zuckt seine Oberlippe, als ob sie sich über das Gesagte mokieren wollte. Zumindest beim Thema Gesundheitspolitik ist das auch so. Doktor Knitter hat einen guten Blick für das Absurde an seiner eigenen Situation. Seine Praxis im eigenen Ärztehaus aus Glas und Klinker mitten im hügelig-grünen Bergischen Land und der Landcruiser vor der Tür stehen für seinen wirtschaftlichen Erfolg. Aber ab heute arbeitet er wieder vier Wochen lang umsonst.
Im Wartezimmer schniefen und husten geduldig zehn Patienten. Grippewelle in Overath. Wir schreiben den ersten Tag im dritten Monat des laufenden Quartals, den Tag, an dem Doktor Knitters Beruf rein rechnerisch regelmäßig zum Hobby wird. Der Computer zeigt das sehr schön.
Die bunten Balken auf dem Bildschirm sehen aus wie eine Fernsehgraphik am Wahlabend. Der kurze Balken steht für 829 Fälle: So viele Patienten behandelte der Arzt durchschnittlich pro Quartal des Jahres 1995. Auf diesen Wert wurde sein Fallbudget eingefroren. Der lange Balken steht für 1.686 Fälle – das sind die Patienten, die den Doktor in den ersten zwei Monaten des laufenden Quartals tatsächlich aufgesucht haben. Viel wichtiger ist das zweite Balkenpaar. Der kurze blaue Balken zeigt, wie viele Punkte Knitters Patienten in drei Monaten verbrauchen dürfen. Der doppelt solange rote Balken zeigt, wie viele Punkte sie tatsächlich schon in zwei Dritteln der Zeit verbraucht haben.
Gesundheitsminister Seehofer hat zwar dem Druck der ärztlichen Standesorganisationen nachgegeben und das nach den Zahlen von 1995 berechnete Budget wiederaufgehoben, aber an der gesetzlichen Auflage ändert das nichts: Die Kassenbeiträge dürfen nicht steigen. Die Politiker haben den Schwarzen Peter einfach an die ärztlichen Interessenvertreter weitergereicht: Nun verteilt jede der 23 Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) das verfügbare Geld auf die einzelnen Facharztgruppen. Seitdem herrscht nackter Verteilungskampf. Und da kommt oft die Arztgruppe am besten weg, die in der jeweiligen Standesvertretung die Mehrheit stellt. Prävention, zeitintensive Betreuung, Kostenersparnis für die Solidargemeinschaft spielen beim Punkteschacher keine Rolle.
Dabei kann gerade hausärztlicher Rat die Kosten dämpfen helfen. Deshalb fordern Gesundheitsexperten schon lange, die Rolle des „Primärarztes“ zu stärken. Der neue Modus bewirkt genau das Gegenteil: Er gräbt Ärzten, die sich für ihre Patienten Zeit nehmen, das Wasser ab.
„Keiner kennt die Patienten so wie ich“
Für viele Patienten ist der Hausarzt Seelsorger, Mediziner und Familientherapeut in einem. „Wer soll ihnen sonst zuhören? Keiner kennt sie so wie ich“, sagt auch Hansgeorg Knitter. Der junge Mann, der heiraten will und keinen Urlaub bekommt – natürlich schreibt er den krank. Auch die Frau, die weinend im Sprechzimmer zusammensinkt, weil der Chef sie so quält, bekommt von ihm ein paar freie Tage. Das junge Mädchen mit Blasenproblemen schickt er nicht zum Urologen. „Wenn ich doch weiß, die hat 'nen neuen Freund. Das ist 'ne Honeymoon-Zystitis.“ 40 Mark kostet seine Behandlung, der Urologe nähme mehr als 600. Ein langhaariges Jeansmädchen, 15 Jahre alt, zieht ihren schüchternen Freund hinter sich her zum Sprechzimmer. Als die Tür sich 20 Minuten später wieder öffnet, sieht der Junge noch niedergeschlagener aus. Der Arzt blickt den beiden nach. „Das Mädel hat schon alles hinter sich. Der Vater hat sich umgebracht, im Kinderheim ist sie vergewaltigt worden. Und jetzt ist sie schwanger, von diesem Bübchen.“
Von zwei bis vier macht Knitter Hausbesuche. Zunächst die tägliche Visite bei einem Diabetispatienten, dessen kürzlich amputierter Fußstumpf nicht verheilen will. Er tupft Desinfektionsmittel auf die Wunde, gibt der Ehefrau ein paar Anweisungen und wendet sich zum Gehen. „Natürlich könnte das eine Schwester machen. Aber der Mann ist auf meine Verantwortung aus dem Krankenhaus entlassen worden. Nur ein Arzt kann den Heilungsprozeß überwachen.“
Doch das deutsche Gesundheitssystem setzt andere Prioritäten. „Alles dreht sich nur noch ums Geld“, seufzt der Landarzt. Die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein gesteht jedem Hausarzt 568 Punkte pro Patient zu. Rentner dürfen 1.254 Punkte verbrauchen. Wieviel Pfennig ein Punkt wert ist, stellt sich erst sechs Monate später heraus. Die KV muß erst alle abgerechneten Punkte einer Facharztgruppe zusammenzählen. Das verfügbare Budget geteilt durch die Anzahl der Punkte ergibt schließlich den Punktwert. Wenn jemand nur seine Chipkarte abgibt, um ein Rezept abzuholen, wenn ein Kind nur einmal im Quartal zum Impfen kommt, bleiben für die anderen mehr Punkte. Vorausgesetzt, es kommen nicht zu viele Patienten im Vierteljahr. Und überhaupt: Welche Leistungen verbergen sich hinter den Punkten?
„Et Kathrinchen“ im Pflegeheim klagt über Halsweh. Bevor Knitter in ihr Zimmer geht, spricht ihn die Pflegerin an. Die Patientin weigere sich aufzustehen. Möglicherweise mache das Schmerzmittel sie lethargisch. Arzt und Pflegerin beraten sich, ein „therapeutisches hausärztliches Gespräch“ von mindestens zehn Minuten – 300 Punkte darf Knitter dafür anschreiben.
Überall auf den Fluren wird der Mann in weißen Jeans und weißem Hemd wie ein Schutzengel begrüßt. Eine Heimbewohnerin im Rollstuhl versucht seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Sie streckt ihre dicken Arme aus, der Arzt streicht darüber und lacht: „Des is' kein Wasser. Du futterst zuviel.“
Er genießt es, gebraucht zu werden. Aber seine neue Rolle im Gesundheitswesen behagt ihm nicht. Die Patienten erwarten von ihm das medizinisch Mögliche. Die Kasse gestattet ihm nur das gemeinschaftlich Finanzierbare. „Die ethisch denkenden Ärzte werden dahin getrieben, wie Geschäftsleute zu denken.“ Knitter ist nicht gegen das Sparen, im Gegenteil. Das Anspruchsdenken vieler Patienten, die „raus“ kriegen wollen, was sie an ihre Kasse bezahlt haben, stößt ihn ab. Für Reiselustige, die 250 Mark pro Nacht fürs Hotelzimmer hinblättern, aber keinen Pfennig für ihre Meningitis- Impfung bezahlen wollen, hat er nur Verachtung übrig. Er hat Patienten, die wollen invalidisiert werden, weil sie es bequemer finden, auf Behindertenparkplätzen zu parken. „Jeder Rentner will Pflegestufe eins – mit ganz absurden Wehwehchen.“ Aber er hat auch eine junge MS-Patientin, fast gelähmt, der wollte der medizinische Dienst der Krankenkasse die Pflegestufe eins aberkennen: „Die kriegen wahrscheinlich Kopfgeld für jeden eingesparten Fall!“
„Die mußte mich mal wieder sehen“
„Et Kathrinchen“ lächelt selig, als der Doktor hereinkommt. Die 85jährige kennt ihn seit vielen Jahren, er hat schon ihre Mutter betreut. „Was machste denn für Sachen?“ fragt Knitter freundlich- streng in bergischem Dialekt. Ergeben liegt die Greisin im Bett, Augen zu, Mund weit offen und wartet, bis der Arzt den Speitel in seinem Koffer gefunden hat.
„Der Hals war die Reise nicht wert“, sagt er später. „Die mußte mich mal wieder sehen.“ Er hilft Kathrinchen auf, betastet ihren Rücken, das osteoporotische Steißbein (Untersuchung: 320 Punkte). „Nu schicken wir dir mal 'nen netten jungen Mann zur Gymnastik. Und dann stehste immer bißchen auf, machst dich fein mit der schönen weißen Bluse, bist doch immer so adrett“ (Beratung: 50 Punkte). Kathrinchen hält sich mit Mühe auf den Beinen. Mit zittrigen Armen stützt sie sich am Bett ab, während der Arzt nach der Gelenkspalte im Kreuz tastet und eine Spritze gegen die Schmerzen setzt (inbegriffen im hausärztlichen Besuch. Pauschal: 400 Punkte).
Beim Weiterfahren spricht Knitter ein paar Hinweise für seine Sprechstundenhilfen ins Diktiergerät, dann macht er die Rechnung auf: 1.070 Punkte hat Kathrinchen heute – theoretisch – verbraucht. In Wirklichkeit ist ihr Punktekonto fürs Quartal längst erschöpft. Anfahrt, Arbeitszeit, Einwegspritze – Kosten, die Knitter nirgendwo geltend machen kann. Nur den Wirkstoff in der Spritze kann er übers Medikamentenbudget abrechnen. Auch dafür gibt es einen Durchschnittswert. Und der ist für Ärzte, die Medizin wohldosiert einsetzen, eher günstig.
Sein Problem sind nicht die Medikamente, sondern die Heilmittel. Massagen, Krankengymnastik – er weiß genau, was für Leib und Seele seiner älteren Patienten gut ist. Doch wer sein Heilbudget überzieht, muß zahlen. 18.000 Mark forderte die Kasse jüngst von ihm für ein Quartal. Er legte Widerspruch ein und begründete die Verordnung in jedem einzelnen Fall. Daraufhin zog die Kasse ihre Forderung zurück.
Hat ihn das vorsichtiger gemacht? Gehört „Rationierung“ zum Ärztealltag, wie Kritiker behaupten? Der Doktor lacht und holt sich ein Rezeptformular auf den Bildschirm. „Sechs Anwendungen“ tippt er, auf dem Schirm erscheint aber statt der Sechs eine Fünf. „Der rationiert für mich.“
Knitter steckt voller Anekdoten über die Absurdität des Systems. „'ne Patientin von mir war neulich beim Ohrenarzt. Der sagt ihr, der Ohrpropf sei nicht gesundheitsbedrohlich. Sie soll nächstes Quartal wiederkommen.“ Er öffnet seine Schreibtischschublade und zieht einen dünnen Papierstreifen hervor. Einen Meter Kleingedrucktes hält er hoch, seine Oberlippe zuckt wieder: „Das ist der Viagra-Beipackzettel. Alles Nebenwirkungen. Die verschreiben wir dann demnächst auf Kassenkosten.“
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