Erst kommt das Kino, dann die Zukunft: Auf der größten Baustelle Europas am Berliner Potsdamer Platz eröffnet morgen der mit 19 Sälen größte Kinokomplex Deutschlands. Die Branche boomt wie noch nie – doch viele ältere Lichtspieltheater können sich gegen die neuen Branchenriesen nicht länger behaupten und müssen schließen Aus Berlin Kolja Mensing

Kinosaurier im Anmarsch

Set-Designer dürfen sich so richtig austoben, wenn sie Kulissen für Science-fiction-Filme bauen. Die Gruselstadt in „Metropolis“ oder die bröckelnden High-Tech- Architekturen in Batmans „Gotham City“ – Beispiele dafür, daß man im Kino prima Ideen ausprobieren kann, für die die echte Welt noch nicht bereit ist. Nun ist der Potsdamer Platz bekanntlich ein Stück dieser echten Welt, doch die Gebäuderiesen sehen trotzdem ziemlich nach Science-fiction aus. Es paßt also ganz gut, daß hier einen Monat vor der offiziellen Eröffnung der Berliner Zukunftslandschaft erst einmal ein Kino aufmacht. Aber was heißt schon Kino? Das CinemaxX am Potsdamer Platz ist das bisher größte Deutschlands.

Auch wenn das Leben drumherum noch eine Baustelle ist: Ab morgen kann man sich tatsächlich im CinemaxX auf dem Potsdamer Platz Filme angucken. Die Eckdaten des kantigen Großkinos mit der großen Glasfront sind beeindruckend. Neunzehn Säle wird es geben. Der größte davon hat Raum für rund 600 Zuschauer und eine Leinwand von gut 10 mal 22 Metern. Überall pusten Klimaanlagen, täglich laufen in allen Sälen fünf Vorstellung, und zwei Kinos machen THX-Sound – das heißt, wenn Godzilla losstampft, wackeln die Sitze.

Das Foyer sieht typisch multiplex aus: Natcho-Maschinen und Kartenabreißer im Einheitslook. Doch die Inneneinrichtung der Säle ist kuschelig. Dort gibt es prunkvolle rote Vorhänge, dezente Beleuchtung und viel Platz, um sich in den Sesseln zu räkeln. Größer, lauter, schöner – alles mit der Erfolgsfirma CinemaxX AG Hans-Joachim Flebbes, die in Deutschland als Marktführer gleich 15 Multiplexe betreibt. Und die jetzt mithilft, den Potsdamer Platz zur Stadt der Kinos zu machen. Wenn das Sony Center im Frühjahr 1999 fertig ist und das Imax-3-D-Theater noch in diesem Jahr aufmacht, wird es auf kleinster Fläche insgesamt 29 Leinwände geben. Und ab dem Jahr 2000 soll hier auch die Berlinale stattfinden.

Soviel Kino war noch nie. Allerdings erklingt gleichzeitig – wie immer, wenn irgendwo ein Multiplex hochgezogen wird – das Lied vom Kinosterben. Tatsächlich schließen immer mehr Traditionshäuser in Deutschland, weil sie sich gegenüber der Großkonkurrenz nicht behaupten können. Das ist der Godzilla-Alptraum: Das Multiplex als trampelige Riesenechse, die die angestammte Filmtheaterlandschaft plattmacht. Mit oder ohne THX. Gleichzeitig gehen jedoch immer mehr Menschen ins Kino. Überraschenderweise sind Gewinner dabei vor allem die noch bestehenden kleineren Häuser, denn die Steigerungsraten der Multiplexe liegen eher unter dem Durchschnitt. Nur Hans-Joachim Flebbe muß sich keine Sorgen machen: Seine Firma vermeldet ein Wachstum von mehr als 30 Prozent.

Aber man bringt Opfer. Flebbe schaffte erst gerade Ordnung in den eigenen Reihen und schließt zum Jahresende eines seiner Traditionshäuser in Berlin, das „Gloria“ am Ku'damm: zuwenig Zuschauer. Und seine anderen beiden Kinos in der City-West werden zu Programmkinos umgemodelt.

Damit ist der 46jährige Flebbe zumindest mit diesen Häusern wieder dort angekommen, wo er einmal angefangen hat. Als Wirtschaftsstudent in Hannover hat er zunächst mal Karten abgerissen, stieg dann ins Kinogeschäft ein und zeigte im „Apollo“ Ingmar-Bergmann-Reihen. Damals kam so etwas noch gut an, und Flebbe machte das Haus zu einem angesagten Programmkino. Er wurde Kinounternehmer, wechselte von der Kunstfilm-Front zum Mainstream und eröffnete schließlich 1991 in Hannover sein erstes Multiplex. Seit Juli ist die CinemaxX AG an der Börse. 48 Mark betrug der Ausgangskurs, und nach einem kurzen Höhenflug ist das Papier im Zuge des allgemeinen Kursrutschs dort auch wieder gelandet.

Trotz seines Erfolgs mit Blockbustern gibt Flebbe sich gerne als Anspruchs-Kinounternehmer. Doch der Cineast wird selbst wohl nicht besonders viel Zeit haben, um ins Kino zu gehen, denn seine AG läuft nur, wenn brav expandiert wird. Und darum sollen nun auch bald in Östereich, in der Schweiz, in der Türkei und in Polen die Flebbe-Kinos mit dem zackigen Doppel-X-Schriftzug gebaut werden: 19 weitere Multiplexe sind in Planung. Vermutlich wird man sie dort gerne nehmen, genauso wie sich hierzulande eigentlich die wenigsten Kommunen gegen den Bau der Großkinos sperren.

In Berlin zumindest gibt es inzwischen einen regelrechten Wettbewerb der Bezirke: Jeder will sein eigenes Multiplex. Wann der Punkt des Overscreenings erreicht wird, weiß allerdings niemand abzuschätzen. Nur wie es in Berlin und anderen Städten aussehen wird, wenn dieser Punkt überschritten ist, kann man sich ungefähr vorstellen: mehr oder weniger modern gestaltete Riesenbauten, die leer und ohne Auftrag herumstehen – Kinosaurier.