: Herr Weigelt lernt sich anzuziehen
Verwirrte alte Menschen zu betreuen, ist ein harter Job – für Angehörige zu Hause und für das Personal in Heimen und Kliniken. Die Angehörigen kämpfen mit der täglichen Überforderung, die Profis mit dem Geldmangel ■ Aus Bonn Daniela Weingärtner
Die Runde in Raum 25.13 der gerontopsychiatrischen Klinik Bonn wirkt heiter. Wer die Familiengeschichten nicht kennt, würde nicht ahnen, daß fast allen hier die Angst im Nacken sitzt: Angst davor, die Wohnung bei der Heimkehr in Flammen oder verwüstet zu finden. Angst, die eigene Mutter in der ganzen Stadt suchen zu müssen. Und die tiefste Angst: den Partner, einen Elternteil jeden Tag ein bißchen mehr zu verlieren.
Das gepflegte Mittfünfziger- Ehepaar hat sich entspannt in den gepolsterten Stühlen zurückgelehnt. Die beiden kommen heute zum ersten Mal zum „Informationsabend über Hirnleistungsstörungen (Demensen) für Angehörige und Betroffene“, den die Gerontopsychiatrie einmal im Monat anbietet. Sie wirken zuversichtlich. Vor zehn Tagen ist die Mutter zur Beobachtung in die Klinik gekommen, nun wollen sie wissen, wie es weitergehen wird. Welchen Verlauf kann die Krankheit nehmen? Welche Medikamente werden helfen?
Die Veteranen in der Selbsthilfegruppe – einige kommen seit fünf Jahren her – lächeln wissend. Sie machen sich über die Möglichkeiten der Medizin längst keine Illusionen mehr. Inzwischen beschäftigen sie ganz praktische Fragen. „Also der Tip mit dem Body“, sagt eine resolute Grauhaarige, „der war wirklich gut.“
Der Tip mit dem Body? Das Ehepaar blickt irritiert. Die Körperhaltung der beiden ist ein einziges Fragezeichen. „Das hat den positiven Effekt, daß sich die Mutti nicht mehr so vollkotet“, erklärt die Stuhlnachbarin bereitwillig. Als sie die Wirkung ihrer Worte in den Augen der beiden Neulinge sieht, legt sie noch mal nach: „Im Schritt sind Druckknöpfchen. Wie bei den Kinderhemden früher. Jetzt kann sich die Mutti die Windel nicht mehr abreißen. Stellen Sie sich vor: Einmal hat sie's sogar gegessen!“
Hannelore Körtner, Sozialarbeiterin in der Gerontopsychiatrie und erfahrene Leiterin der monatlichen Sitzungen, findet, daß es reicht mit „Mutti“. Das Schlimmste hätten sie jetzt hinter sich, erklärt sie den entsetzten Eheleuten. Auf dieser Seite des Stuhlkreises säßen eben die harten Fälle.
Sie gibt das Wort an den gebrechlich wirkenden Herrn auf der anderen Seite weiter. Er habe nun alle Spiegel fortgenommen, erzählt der leise. Seine Frau habe Angst bekommen vor der fremden Person im Glas. Der kräftige Mensch neben ihm berichtet vom eigenen Schlachtereibetrieb. Vierzig Jahre lang war die Frau nicht krank. Hat viel geraucht und wenig gegessen. Ein fragender Blick auf den jungen Arzt, der für die Klärung medizinischer Fragen dabeisitzt: Ob das Rauchen den Krankheitsverlauf beschleunigen kann? Der Schlachter wartet die Antwort nicht ab, wirft statt dessen unvermittelt seinen Kopf zurück und jault wie ein Hund: „So heultse immer. Genau so. Wennse wenigstens leise weinen tät...“
Und so geht es weiter auf der Seite, wo nicht die harten Fälle sitzen: versteckte Schlüssel, verschwundene Dokumente, Wutausbrüche, Orientierungslosigkeit: Schwieriger, manchmal komischer, oft grausiger Alltag in den 900.000 bundesdeutschen Familien, die sich nach statistischen Hochrechnungen derzeit um einen demenskranken Angehörigen sorgen. Auch wenn die Krankheitsbilder vielfältig, die Ursachen noch lange nicht erforscht sein mögen, so ist doch eines unumstritten: Das Risiko steigt mit dem Lebensalter. In einer ständig älter werdenden Gesellschaft nimmt auch die Zahl der Menschen mit Hirnleistungsstörungen zu. Immerhin 80 Prozent der Betroffenen werden zu Hause betreut. Ambulante Pflegedienste können einen Teil der körperlich schweren Arbeit abnehmen, aber die nervlich belastende Verantwortung für den Kranken liegt beim Lebenspartner und bei den Kindern. Nur wenn die Angehörigen es schaffen, die Last auf mehrere Schultern zu verteilen, werden sie durchhalten, warnt Hannelore Körtner mehrmals an diesem Abend. „Suchen Sie sich Verbündete“, sagt sie fast beschwörend.
In Familien, die mit ihren Problemen allein bleiben, kann Fürsorge in Haß auf den Kranken umschlagen. Hilfsangebote, die einen Teil der Belastung abnehmen, kosten Geld. Das Geld für soziale Einrichtung aber wird gerade in einer zunehmend überalterten Gesellschaft knapper.
Professor Rolf Hirsch, der in Bonn die Gerontopsychiatrische Klinik leitet und die Gruppe für Angehörige angeregt hat, sieht die Zukunft düster. Nach seiner Ansicht hat die Pflegeversicherung das Problem noch verschärft, den Graben zwischen Gesundheits- und Sozialsektor vertieft. „Zuerst wird gefragt: Was kostet das – und wer bezahlt? Dann erst: Was nützt dem Patienten?“
Die Pflegeversicherung darf nach dem Gesetz nur Leistungen erstatten, die die „Grundbedürfnisse“ des Patienten befriedigen. „Satt und sauber“ heißt das im abgebrühten Altenpflegerjargon. Maßnahmen, die dazu beitragen könnten, daß der alte Mensch seine Selbständigkeit aufrechterhält oder wiedererlangt sind ebensowenig im Leistungskatalog enthalten wie Krisenhilfe für Angehörige.
Professor Hirsch hat deshalb in Bonn auch einen Notruf für alte Menschen und ihre Angehörigen eingerichtet. Was ihm aus überforderten Familien und schlecht ausgestatteten Altenheimen zu Ohren kommt, hat seine Sprache drastisch werden lassen: „Siechenstationen“ seien die Heime. In jeder Legebatterie werde das Schamgefühl der Hühner beim Eierlegen mehr respektiert als das Schamgefühl alter Menschen bei der Körperpflege. Und dann, fast schadenfroh: „So geht es uns allen mal.“
Weil allgemeinmedizinische Kliniken und Altenheime stets bemüht sind, die teuren Pflegebedürftigen loszuwerden, ist ein Verschiebebahnhof entstanden, dessen Abstellgleis in Professor Hirschs Zuständigkeit fällt: die gerontopsychiatrische Klinik. Nur sie ist gesetzlich verpflichtet, Menschen über sechzig Jahre aufzunehmen, die mit ihrem Alltag im Heim oder in der eigenen Wohnung nicht mehr zurechtkommen.
Margit Rolf arbeitet hier in der Bonner Klinik als Altenpflegerin in einer der geschlossenen Abteilungen. Die zierliche Person mit der roten Igelfrisur liebt ihren Beruf – wenn sie auch manchmal an den absurden Auswüchsen des Systems verzweifelt.
Einer Arche Noah für absonderliche Alte gleicht der helle Aufenthaltsraum. Jeder hier sieht tief innen seinen eigenen Film ablaufen: Der zänkische Vater droht einmal mehr seiner Schwiegertochter, dieser „polnischen Schlampe“, sie könne gleich ein Bügeleisen fliegen sehen. Die dicke Frau mit slawischem Akzent packt jeden Zipfel eines weißen Kittels, den sie zu fassen bekommt. Mit zerquältem Gesicht fleht sie: „So lassen Sie mich doch heim! Die Kinder sind hungrig, sie warten doch auf mich... Mein Mann ist Spätheimkehrer!“ Und im Polstersessel die zerbrechliche Neunzigjährige schreit mit verblüffender Kraft: „Mama! Komm! Laß uns Pflaumenkuchen backen!“
Rüstige Damen in den Sechzigern mit Tabletten- oder Alkoholproblemen landen ebenso in der geschlossenen Abteilung wie der polternde Michael-Kohlhaas-Typ, der seinem Sohn im Streit mit „Feuer unterm Dach“ gedroht hat. „Bevor ich hier gearbeitet hab', hab' ich nicht für möglich gehalten, wie schnell das geht. Da bäumt sich mal jemand auf, und schon heißt es: agressiv“, erzählt Margit Rolf. Oft nutze auch die Verwaltung eines Altenheims den Klinikaufenthalt als Vorwand, um den Heimplatz zu kündigen. Dann muß der Patient in der Gerontopsychiatrie bleiben, bis eine neue Lösung gefunden ist. So werden Heilungserfolge zunichte, weil die Sicherheit der vertrauten Umgebung verloren ist.
Margit Rolf hat die Erfahrung gemacht, daß es nicht leicht ist, ein Treffen mit den Altenpflegern zustande zu bringen, die ihre Patienten nach der Behandlung in der Gerontopsychiatrie übernehmen sollen, um eine gleichbleibende Pflege zu sichern. Zeitmangel und Resignation bestimmen vielerorts den Heimalltag. Für feste Bezugspersonen, für geduldige Hilfestellung, die den alten Menschen möglichst selbständig bleiben läßt, fehlt das Geld.
Im Vergleich dazu sind die Bedingungen in Schwester Margits Abteilung luxuriös. Wenn es der Schichtplan erlaubt, behält jeder Patient während des gesamten Aufenthalts denselben Betreuer.
Herr Weigelt hat an Schwester Margits Gesellschaft sichtlich großes Vergnügen. Er packt „die Kleine“, wie er sie nennt, bei der Hand und führt sie singend zum Waschbecken. Für die Prozedur, die nun folgt, scheint Margit Rolf alle Zeit der Welt zu haben. Sie erklärt jeden Handgriff, legt Kleidungsstücke zurecht und probiert aus, ob Herr Weigelt die richtige Reihenfolge selbst herausfinden kann. Als er die Unterhose über die Hose ziehen will, lacht sie ihn aus. Er lacht mit und beginnt unverdrossen wieder von vorn.
„Die Sachen, die er sich hier aneignen kann, wird er im Altersheim 'ne Weile beibehalten. Dann geht es wieder abwärts“, sagt sie resigniert. Sie hat viele „Stammkunden“, die in regelmäßigen Abständen hier hochgepäppelt werden, draußen allmählich abbauen, verwirrt und aggressiv reagieren – bis der Kreislauf von neuem beginnt.
Im Regal liegen die Gurte immer bereit. Vorletzte Nacht war Herr Weigelt auf eine Pflegerin losgegangen und mußte am Bett festgebunden werden. Das komplizierte Gefüge zwischen Patient und Betreuer beschreibt Margit Rolf so: „Klar haben wir den Schlüssel und den Magnet zum Fixieren. Aber erst mal hat der Kranke die Macht.“
In Schwester Margits Abteilung sind die Gurte extremen Situationen vorbehalten. In manchen Heimen werden verwirrte Patienten routinemäßig „fixiert“. Deshalb bietet die Bonner Gerontopsychiatrie Pflegern einen Gesprächskreis an, in dem Alternativen zum Festbinden erarbeitet werden. Viele haben einfach Angst vor der Verantwortung, wenn sie einen verwirrten Patienten nicht ständig im Auge behalten können.
Auf Herrn Weigelts Fensterbrett stehen säuberlich ausgerichtet zwei Schuhspanner neben dem Foto eines lächelnden Ehepaars. „Das muß ein feiner, charmanter Mann gewesen sein“, sagt Margit Rolf und reicht dem alten Herrn seinen Kamm. Mit routinierten Bewegungen zieht er ihn durchs Haar, streicht mit der flachen linken Hand hinterher – automatisch vollzieht er die tausendfach ausgeführte Morgenroutine, als würde er gleich seine Aktentasche schnappen und seiner Frau einen Abschiedsgruß zurufen. Aber plötzlich läßt er die Hände sinken, blickt verwirrt auf den alten Mann im Spiegel, dem trotz aller Bemühungen die Haare in alle Richtungen stehen.
Schwester Margit tritt hinter ihn und streicht ganz zart das Durcheinander glatt. Was ihr Traum wäre, ihr Traum vom Altwerden in Würde? „Mein Traum, das ist ein Bauernhof. Dort hätte jeder seinen Platz, eine Aufgabe, die er noch schaffen kann. Aber da müßte man ja Millionär sein, um das zu verwirklichen.“
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