: Schlimmer, als das Leben so spielt
Ist es weltfremd, wenn sich ein Filmemacher heute als „linksradikal“ versteht? Ken Loach hat damit kein Problem, für ihn haben auch Zugverspätungen politische Gründe. Im fsk gibt es jetzt eine Ken-Loach-Retro ■ Von Andreas Becker
„Auf welcher Seite stehst du, heh, hier wird ein Platz besetzt“, schmetterten wir einst in Gorleben oder Kalkar den Polizisten entgegen. Die durften im Dienst nicht singen, und so antworteten sie lieber mit Wasserwerfern und Schlagstöcken. Leider gibt es – soweit mir bekannt – über die immerhin rund einmonatige Platzbesetzung mit einem ziemlich bunten Leben in Holzhütten Ende der Siebziger in Gorleben keinen Videofilm, der je im Kino oder TV gelandet wäre.
Der englische Regisseur Ken Loach wäre wohl jemand gewesen, der einen solchen Film hätte drehen können. Und seine Sympathie wäre eindeutig bei den Besetzern gewesen. Noch heute versteht er sich als „linksradikal“, und er hält es für seine Aufgabe, die Kämpfe der Arbeiter nicht nur zu dokumentieren, sondern auch, wo es geht, zu unterstützen. Heutzutage kommt vielen eine solche Position – so, als wäre die taz immer noch „linksradikal“ – ja eher weltfremd vor, geradezu unvorstellbar, oder? 1984 drehte Loach „Which Side Are You On“, eine Dokumentation des Bergarbeiterstreiks in England, der im Endeffekt zum größten Thriumph Maggie Thatchers über die Arbeiterklasse werden sollte. Loach versucht zu zeigen, wie die Arbeiter selbst diesen Streik kulturell verarbeiten. Mit seiner klaren Position den Streikzielen gegenüber eckte er prompt bei den Fernsehleuten an, für die er den Film produziert hatte. Der Film flog aus dem Programm, wurde dann später aber bei Channel Four gezeigt. So etwas passiert Loach öfter. Trotzdem macht er weiter. Oft arbeitet er an drei Projekten gleichzeitig. Warum er das tue, fragt ihn Karim Dridi in seiner Doku „Citizen Ken“ für arte. „Weil meine Zeit abläuft“, sagt der mittlerweile Einundsechzigjährige. Für einen Moment meint man, ein Stück in seine Seele zu schauen. Der Interviewer fragt lieber nicht nach. Loach scheint ein spröder, ja fast ängstlicher Typ zu sein. Wie er da so in einem Sessel eines englischen Zuges sitzt, der schon wieder Verspätung hat. Eigentlich wirkt Loach wie ein introvertierter Intellektueller, aber er agitiert auch gern. Warum hat der Zug Verspätung? Weil die Regierung die Eisenbahn privatisiert hat! Müssen Sie eigentlich alles politisch sehen? fragt Dridi darauf leicht genervt.
Scheinbar absurderweise hat Loach vor allem vor Kameras Angst. Er kann zunächst kaum antworten, weil die Kamera ihm zu nahe kommt. In dieser Kamerascheu liegt vielleicht auch einer der Gründe für die Besonderheit seiner Spielfilme. Loach versucht die Kamera für die Schauspieler unsichtbar werden zu lassen. Sie soll die Situation nicht stören. Denn er arbeitet möglichst mit Laien. Wenn er eine Spielfilmszene im Pub braucht, wirft er nicht die normalen Leute aus der Kneipe und holt dafür Statisten. Er dreht ständig „on the edge“, immer kann die Situation umkippen. Aus Realität wird Fiktion – und umgekehrt. Er will eine möglichst naturalistische Situation am Set. „Er ist verrückt. Er gibt einem nicht mal vorher das Drehbuch“, sagt Ricky Tomlinson, Darsteller in „Riff Raff“ und „Raining Stones“. „Manchmal gibt er es einem abends oder kurz vorm Dreh, aber dann schmeißt er plötzlich alles um. Ich steh' nackt in der Dusche, plötzlich kommen die Frauen. Ken filmt alles. Ich wußte das vorher nicht.“ „Was Ken auf gar keinen Fall brauchen kann, ist jemand, der ,spielt‘. Dann verliert er den Faden beim Drehen“, sagt einer der „Riff Raff“-Hauptdarsteller. „Riff Raff“ oder auch „Raining Stones“, das sind Filme, die einen tatsächlich durch eine Art Hyperrealismus in den Bann ziehen. Die Figuren agieren dermaßen ungekünstelt, daß einem manchmal ganz schwummrig wird.
Wenn der Bauarbeiter Steve, der gerade aus dem Knast kommt, sich in die Sängerin Susan verknallt und diese aus der Wohnung wirft, als er merkt, daß sie drogensüchtig ist, dann spüren wir den Zigarettenrauch im Pub, als hätte uns im Kino gerade jemand aus der Reihe vor uns ins Gesicht gepustet. Loachs Filme lösen jegliche Distanz auf. Fast körperlich fiebern wir mit seinen Antihelden durch den manchmal sogar noch lustigen Struggle of life.
„Wir machen halt nicht diesen Hollywoodscheiß“, sagt sein langjähriger Drehbuchautor Jim Allen zu Dridi. Loachs Figuren sind Menschen und keine Menschen, die Menschen spielen. Für manch einen ist genau das der Fehler. Manchmal aber, wie bei „Ladybird, Ladybird“, dessen Hauptdarstellerin Crissy Rock einen Silbernen Bären erhielt, hat man das Gefühl, keiner der Zuschauer könne sich einem solchen Film entziehen. Wie im Schockzustand tritt man danach auf die Straße und ist froh, wenn einen nicht das nächste Auto überfährt. Und wenn man merkt, daß das eigene Leben zum Glück manchmal gnädig mit einem selbst und nicht so knallhart realistisch ist wie ein Ken-Loach-Film.
Ken-Loach-Retro im fsk, 10. bis 30.9., Segitzdamm 2, am Oranienplatz, Kreuzberg
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