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Die traurigste Insel der Erde

Einst war Haiti ein elitärer Fleck auf der Landkarte des internationalen Tourismus, heute blicken die Haitianer neidvoll auf die benachbarte Dominikanische Republik, wo der Tourismus boomt. Trotz politischer Stabilisierung läßt der Aufschwung auf sich warten  ■ Von Jens Holst

Neben dem klapprigen Holzsteg dümpeln alte Ruderboote im türkisblauen Wasser. Eine buntgekleidete Frau hockt im Schatten des einzigen großen Baumes neben ihrer Kochstelle. Es gibt gebratene Bananen und Hühnerfleisch, dazu scharf eingelegten Kohlsalat. Der Preis für Essen und Überfahrt ist schnell ausgehandelt. Mit mehreren Cola-Flaschen in der Kühlbox und zwei Portionen Grillbananen an Bord geht es los. Der junge Schwarze legt sich ins Zeug, um gegen die Dünung anzurudern. Wie überall in Haiti ist Manpower angesagt.

Nach zwanzig Minuten ist das Meer plötzlich spiegelglatt. Wir haben den Windschatten der kleinen Cacique-Insel erreicht. Zahllose bizarre Wurzeln ragen in das glasklare Wasser. Durch den Mangrovenwald schimmert auf einmal eine säulenbestandene Anlegestelle. Sie läßt den noblen Charme vergangener Tage ahnen, obwohl heute Unkraut die Bodenplatten überwuchert und aus allen Spalten bunte Blümchen wachsen. Zwischen ausgebrannten und geplünderten Bungalows sind die verkohlten Reste eines überdachten Saales stehen geblieben. Die verrußte Bar läßt ihn unschwer als ehemaliges Restaurant erkennen.

Vor Jahren hätten wir an dieser Stelle ein irdisches Paradies betreten. Auf der Cacique-Insel lag eine der schönsten Hotelanlagen des kleinen Karibikstaates im Westen der Insel Hispaniola. Auf den Landkarten, die Straßenhändler bis heute an allen Ecken der Hauptstadt anbieten, wird das Hotel Ibo-Beach als „Die Perle Haitis“ angepriesen. Einst unter Schweizer Leitung, war es ein beliebtes Naherholungsziel der finanzkräftigen Oberschicht. Der Hinweis, von Port-au-Prince seien es nur 15 Minuten, ist zwar in Zeiten wachsender Verkehrsstaus nicht mehr zutreffend. Weit ist es aber wirklich nicht. Die kleine Insel am Nordrand der Bucht von Port-au-Prince bietet einen beeindruckenden Panoramablick auf die haitianische Hauptstadt, die sich an Berghängen hochrankt.

In vergangenen Tagen war Haiti ein renommierter, etwas elitärer Fleck auf der Landkarte des internationalen Tourismus. Von dem exotischen Reiz der ersten unabhängigen Sklavenrepublik angezogen, reisten vor allem reiche Nordamerikaner in die Inselrepublik. „Aus der Perspektive der sicheren Luxushotels“, schrieb Anfang der 70er Jahre Spiegel-Korrespondent Carlos Widman, „erschienen das Elend und die himmelschreiende soziale Ungerechtigkeit nicht bedrohlich, solange keine Leichen auf den Straßen lagen und die ausländischen Besucher zu unfreiwilligen Zeugen von willkürlichen Verhaftungen und Folterungen wurden.“ Die politische Entwicklung machte solche Begegnungen aber immer unausweichlicher. Es ging bergab mit dem Tourismus, bis er völlig zum Erliegen kam. Viele Hotels gingen bankrott oder wurden einfach aufgegeben, so wie das Strandhotel Ibo-Beach auf der Cacique-Insel.

Als der brutale Diktator „Baby Doc“ Duvalier 1986 aus Amt und Land verjagt wurde, hinterließ er ein politisches Chaos. Den ersten demokratisch gewählten Präsidenten, Jean-Bertrand Aristide, putschte nach sieben Monaten das Militär weg, es folgte eine dreijährige Diktatur. Erst im Oktober 1994 konnte Aristide unter dem Schutz der US-Armee in seine Heimat zurückkehren. Unter seinem Nachfolger Ren Preval zeichnet sich eine langsame Stabilisierung der Lage ab, der wirtschaftliche Aufschwung läßt jedoch auf sich warten. „Kurzfristig sehe ich nicht viele Möglichkeiten“, erklärt der Ökonom Remy Montas, Berater der Regierungskommission zur Förderung des Fremdenverkehrs. „Neben haitianischem Kunstgewerbe und naiver Malkunst bietet der Tourismus die einzige Chance.“ Neidvoll blicken die HaitianerInnen auf die benachbarte Dominikanische Republik, wo jährlich zwei Millionen AusländerInnen Urlaub machen. Haiti hat ebenso weiße, unberührte Karibikstrände und Sonnenwetter zu bieten, ideale Voraussetzungen, um sonnenhungrige Nordlichter ins Land zu locken.

Dazu fehlen aber die notwendigsten Voraussetzungen. Ganze zwei Fernverbindungen verdienen die Bezeichnung Straße, die Strecken von Port-au-Prince in die zweitgrößte Stadt Cap-Haitien und zur Grenze mit der „Dom Rep“. Die asphaltierten Straßen in den Süden und Westen des Landes sind derart von Schlaglöchern übersät, daß eine Reise für ausländische BesucherInnen genauso unzumutbar ist wie auf den Schotterpisten, die das übrige Land durchziehen. Noch belastender dürfte das allgegenwärtige Elend sein. Der Weg vom Flughafen in die Hauptstadt oder an die Küste führt unweigerlich am hauptstädtischen Slum Cit Soleil vorbei. Dort hocken die Menschen vor ihren armseligen Hütten. Nackte Kinder mit Wurmbäuchen spielen zwischen Bretterbuden. Beißender Qualm liegt in der Luft. Die letzten Reste des haitianischen Waldes werden verheizt. Eine andere Energiequelle gibt es nicht.

In den Straßen von Port-au- Prince herrscht ein quirliges Treiben, das eher nach Afrika als nach Lateinamerika zu gehören scheint. Mit bemerkenswerter Eleganz und Sicherheit bewegen buntgekleidete Frauen schwere Lasten auf dem Kopf durch das Labyrinth enger Gassen. Männer aller Altersstufen hocken am Straßenrand und widmen sich einer rührend anmutenden Form des Industriemüllrecyclings. Mit einfachem Werkzeug formen sie Möbel aus gebrauchtem Stahl oder schneiden Skulpturen aus alten Ölfässern. Menschentrauben zwängen sich auf phantasievoll bemalte Pritschenwagen, die den öffentlichen Nahverkehr bewältigen. MP-bewehrte Rambos, Jesusfiguren und fromme Gebete schmücken in trauter Eintracht diese Tap-taps, auf denen die Passagiere von Schlaglöchern durchgerüttelt werden. Eine Oase der Ruhe inmitten des staubigen, verschwitzten Trubels ist das Hotel Oloffson. Die etwas marode, mehrstöckige Holzvilla versetzt den Gast in längst vergangene Zeiten. Hier schlug einst die „Stunde der Komödianten“ von Graham Greene, wo der britische Autor so eindrücklich die despotische Herrschaft von „Papa Doc“ Duvalier beschreibt. Von der Veranda, auf der vorwiegend englischsprachige Gäste ihren eisgekühlten Rumpunsch schlürfen, schweift der Blick über die hohen Palmen und violetten Bougainvilleas auf den Swimmingpool, an dem sich bei Greene nordamerikanische Urlauberpärchen liebten und später ein haitianischer Arzt aus Angst vor den Duvalierschen Mörderbanden Selbstmord beging. TouristInnen kamen zu jener Zeit nicht mehr ins Land.

Erst seit kurzem beginnt sich das zu ändern. Seit drei Jahren kommen jede Woche einige hundert UrlauberInnen aus den Bettenburgen der Dominikanischen Republik über die Grenze. Beliebtestes Ziel ist die Nordküste um die Hafenstadt Cap-Haitien, dessen verfallenes koloniales Zentrum an bessere Zeiten erinnert. Der Besitzer des Hotel Mont Joli, Walter Bussenius, beobachtet bei den Haiti-BesucherInnen eine interessante Wandlung: „Am Anfang sind sie immer ganz vorsichtig, fast verängstigt, aber im Laufe des Stadtrundgangs legen sie ihre Scheu ab und merken, wie friedlich es hier bei uns ist.“ Hellhäutige werden zwar neugierig beäugt, erklärt der Hotelier, Überfälle habe es aber in den letzten dreißig Jahren nicht gegeben.

Im Mittelpunkt jeder Haitireise stehen die nahe gelegene Zitadelle Laferrire und das Schloß Sanssouci am Rande des Örtchens Milot. Bevor wir die großzügigen Treppen erklimmen können, sind wir von Fremdenführern und Händlern umzingelt. „Die Sonne brennt so stark heute, da müssen Sie einen Hut kaufen“, beschwört uns eine Frau und drückt uns gleich fünf Kopfbedeckungen in die Hand. Jede Gegenwehr ist sinnlos, der schnell purzelnde Preis zwingt förmlich zum Kauf des Kopfschmucks. Kaum ist das Geschäft getätigt, wartet schon das nächste Beinahe-Handgemenge. Es gibt viele Fremdenführer und nur wenige TouristInnen, da wird jeder auf das heftigste umworben. Jede Entscheidung für einen ist gleichzeitig eine Entscheidung gegen viele andere, und jede/r HaitianerIn hat seine vielköpfige Familie zu ernähren.

Dann kann es losgehen. Wenige Kilometer lassen sich noch mit dem Auto zurücklegen. Für den letzten Anstieg bleiben nur Schusters oder ein echter Rappen in Form eines abgemagerten Mulis. In engen Serpentinen windet sich der Weg hinauf zu der fast 800 Meter hoch gelegenen, uneinnehmbar erscheinenden Festung. Gegen Zahlung eines bescheidenen Eintrittsgeldes öffnet ein hochgewachsener Schwarzer das eisenbeschlagene Holztor. Nun geht es treppauf, treppab durch Korridore und Verteidigungsgänge. Ein feucht- modriger Geruch liegt in der Luft. Mehrere Räume sind wegen Bauarbeiten geschlossen. Seit fast drei Jahren renoviert die Unesco, die Kulturorganisation der Vereinten Nationen, die von ihr als Erbe der Menschheit anerkannte Zitadelle. Ein Teil des Waffenarsenals ist wieder aufgebaut, sechs Kanonen richten ihre gußeisernen Rohre auf die Schießscharten. Eisenkugeln liegen massenweise herum. Gegossen wurden sie auf der Zitadelle, gebraucht wurden sie nicht. Die vertriebenen französischen Kolonialherren kehrten nie auf die Karibikinsel zurück.

Vom Dach der Zitadelle, das nur Schwindelfreie betreten sollten, tut sich ein herrlicher Blick über die bergige, saftiggrüne Landschaft auf. Im Norden glitzert die Karibik. An dessen Ufer, versteckt hinter einen Berg, liegt die zweite touristische Attraktion des haitianischen Nordens. Zweimal jede Woche findet am Traumstrand von Labadie eine kleine Invasion statt, gegen die auch die mächtige Zitadelle nichts auszurichten vermag. Montags und dienstags ist der Zutritt für Einheimische gesperrt. Dann machen die Luxusliner der norwegischen World Caribbean Cruisaders vor der Bucht fest. Eine ganze Heerschar dunkelhäutiger Bediensteter sorgt ein paar Stunden lang für das leibliche Wohl der hellhäutigen Passagiere. Es wird alles geboten, was das Herz der KreuzfahrerInnen höher schlagen läßt, von Tauch- und Bootsexkursionen über Gruppenspiele am Strand bis zu Barbecues.

Spätnachmittags, wenn die weißen Ozeandampfer die Bucht verlassen haben, machen sich die Angestellten auf den Heimweg, entweder mit dem Ruderboot über die Bucht in das Fischerdorf Labadie oder auf Lastern die sechzehn beschwerlichen Kilometer nach Cap- Haitien. Der holprige Feldweg führt über den Berg, der die idyllische Badebucht vom Rest des Landes abschirmt. „Im Grunde genommen sieht man gar nicht, daß man in Haiti ist“, gibt Staatssekretär Bellande zu. „Die Schiffsbesatzung verrät es nicht. Nur wer fragt, kann es erfahren. Das sind vielleicht zwei oder drei der 2.500 Passagiere.“

Das Armenhaus der Karibik muß die Bedingungen der internationalen Veranstalter akzeptieren. Den Verantwortlichen schwebt allerdings ein anderer Tourismus vor. Das kleine Land bietet ebenso viele Überraschungen wie unvergeßliche Eindrücke. Reisen in Haiti ist zwar beschwerlich, aber nicht sonderlich gefährlich. Der Preis eines wachsenden Individualtourismus für das bitterarme Land ist allerdings nicht abzuschätzen. Einerseits braucht Haiti dringend Geld, andererseits zeigt der Anblick saturierter WohlstandsurlauberInnen die eigene soziale Krise. Ernest Bellande bringt das Problem auf den Punkt: „Wir brauchen Touristen, damit Devisen in das Land fließen. Gleichzeitig haben wir riesige soziale Probleme, zunehmende Armut und Unterernährung. Das ist ein Teufelskreis.“

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