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Der Ball ist Schwimmball, die Blume Sonnenblume

■ Seit den Auseinandersetzungen um „Ghettos“ steht die deutsche Sprache wieder hoch im Kurs. Im Wedding nehmen Erstkläßler derzeit an einer „Sprachstandsmessung“ teil – mit großer Freude

Nicole sitzt ganz aufrecht auf dem Stuhl und tippt schüchtern mit dem Finger auf das abgebildete Brot. Dann auf das Geld und schließlich auf die Kasse. Die sechsjährige Grundschülerin hat alle Begriffe richtig zugeordnet. Dafür bekommt sie ein dickes Lob. Kai-Uwe Strehlow, Lehrer an der Brüder-Grimm-Schule in Wedding, hat noch eine Menge anderer Bilder für Nicole parat. Fast eine Viertelstunde lang muß das Mädchen Begriffe finden, Sätze formulieren, Pluralformen bilden und eine Geschichte nacherzählen.

Nicole ist eine von 2.000 ErstkläßlerInnen in Wedding, die in diesem Schuljahr zum ersten Mal eine „Sprachstandsmessung“ mitmachen. Auf diese Weise will der Bezirk herausfinden, welche Sprachkompetenz die SchülerInnen mitbringen und wieviel Förderunterricht sie brauchen. Ihr besonderes Augenmerk richten die LehrerInnen auf die Kinder nichtdeutscher Herkunft, die an Weddinger Grundschulen etwa 40 Prozent ausmachen. Doch auch bei deutschen Schülern, erläutert Schulpsychologe Andreas Pochardt, sei das sprachliche Niveau sehr unterschiedlich.

Nicole hat es hinter sich. Die Sechsjährige, die polnische Eltern hat, wußte fast alles. Zufrieden geht sie in ihre Klasse zurück. Die Messung sei für Erstkläßler eigentlich zu einfach, sagt Pochardt. „Aber jedes Kind soll ein Erfolgserlebnis haben.“ Kein Schüler soll sich wie ein Versager fühlen, wenn er den kargen Raum verläßt, in dem die Messung stattfindet.

Die Testsituation nehmen die ErstkläßlerInnen noch nicht wahr. In ihrer zweiten und dritten Schulwoche kennen sie so etwas wie Klassenarbeiten und Leistungstests noch nicht. „Für die Kinder gehört die Sprachmessung einfach zur Schule dazu“, sagt Strehlow. Er vermeidet bewußt das Wort „Test“ für die Messung. Schließlich gehe es nicht um Leistung.

Duygu hat sich auf den Stuhl gekniet, damit sie die Bilder besser sehen kann. Strehlow zeigt auf den Ball. „Was ist das?“ Die kleine Türkin überlegt. Wie heißt das noch mal? „Schwimmball“, sagt sie schließlich voller Eifer. Auch die Blume ist bei ihr nicht einfach eine Blume, sondern eine Sonnenblume. Hund und Katze kann sie ebenso problemlos unterscheiden, schließlich hat auch ihre Oma in der Türkei diese Tiere. Die sechsjährige Duygu plappert fröhlich drauflos.

An der Art, wie Kinder Erlebnisse erzählen können, lasse sich leicht die Zuwendung der Eltern erkennen, erläutert Pochardt. Je intensiver die Kommunikation zu Hause sei, je mehr sich Eltern mit ihren Kindern unterhielten, desto höher sei die Sprachkompetenz der Kinder. Das lasse jedoch immer mehr nach. Diese soziale Komponente ist nach Pochardts Auffassung für das sprachliche Niveau entscheidender als die Begabung. Nach den Herbstferien will er mit der Auswertung der Messungen fertig sein.

Noch werden jedoch die SchülerInnen einzeln aus ihren Klassen geholt, um ihr Sprachniveau zu erfassen. Geweigert hat sich bislang niemand. Im Gegenteil: „Ich will, ich will!“ rufen die Kinder, als Strehlow in der Tür erscheint, um das nächste Kind abzuholen. Jutta Wagemann

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