Studenten sind keine Bürger

Das gegenseitige Desinteresse von Parteien und Studenten ist exemplarisch für den Zustand der Bildung. Vor der Wahl bejammert die Politik die Bildungskrise lediglich  ■ Von Christian Füller

Die Hochschullandschaft sieht heute so aus wie nach Auerstedt und Jena. Preußen lag damals, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, schwer geschlagen in Agonie. Das Lamento über die Niederlage der preußischen Armeen gegen Napoleon mündete in eine jämmerliche Wehklage über den staatlichen und geistigen Verfall. Zur Rettung erkor man die Gründung einer Bildungseinrichtung, der späteren Humboldt-Universität in Berlin. Sie sollte mit ihrem Hauptprinzip Vorbild werden für die Universität der Moderne: Einheit von Forschung und Lehre. Mitglieder der ehrenwerten Akademie wurden zum ersten Mal mit den Fragen der Studenten konfrontiert.

Auch heute, 200 Jahre später, versuchen die Deutschen im Grunde von diesem Mythos der Humboldtschen Universität für das Bildungswesen als Ganzes zu zehren. Aber die Schonungslosigkeit, mit der die Bildungslandschaft vermessen wird, ist nicht geringer als damals. Und sie hat die Parteien, ob links oder rechts, erreicht. Die Einschätzungen reichen von der Kulturkrise (PDS) bis hin zu der konservativ modernistischen Formel, früher seien deutsche Schulen, Hochschulen und die berufliche Bildung Weltklasse gewesen – und sie müßten es wieder werden (CDU). Ob das gelingt?

Wohl kaum, betrachtet man, wie wenig weit die Analyse der Krisenursachen ins Herz der PolitikerInnen vorgestoßen ist. Die Bildung hat es als „Mega-Thema“ (Roman Herzog) zwar bis in die Sprechblasen der politischen Klasse geschafft. Daß irgendeine Partei das Thema aber an zentraler Stelle in die Programmatik integriert hätte, ist nicht zu erkennen. Schon gar nicht zählt der jämmerliche Zustand der dualen Ausbildung (die im Osten zu 60 Prozent staatlich finanziert ist) oder der Universitäten zu jenen Formeln, die dem Wähler bei jeder Gelegenheit eingehämmert werden. Die Wahl-Kampagnen Bill Clintons enthielten neben der Wirtschaft („the economy, stupid!“) stets das Credo für bessere Ausbildung, nicht anders war es bei Tony Blair in Großbritannien.

Am ehesten haben sich noch die kleinen Parteien des Themas angenommen. Die Grünen hatten versprochen, ihre Spitzen würden den Zustand und die „notwendige grundlegende Reform“ von Schulen, Hoch- und Berufsschulen zu einem der Themen des Wahlkampfs machen. Doch den fleißigen grünen BasisarbeiterInnen ist kaum mehr gelungen, als die Parteioberen zu einer Radtour durch die Unis zu überreden. Öffentliche Resonanz: gleich Null.

Bei der FDP war es umgekehrt. Die StudentInnen haben die Partei zum Jagen getragen. Nach dem studentischen Protestherbst vor einem Jahr, so schien es, würden die StudentInnen die kleine Partei einnehmen. Doch die Möllemänner haben das unfriendly takeover populistisch umgedreht. Der Fallschirmspringer landete seinen Coup mit der Forderung nach einem Sonderprogramm von zehn Milliarden Mark – zur Hälfte zu zahlen von den Bundesländern, wo die FDP nichts mehr zu sagen hat. So steht die FDP in der öffentlichen Wahrnehmung heute bildungspolitisch womöglich am besten da. Die Jugendstiftung etwa gab ihr (und den Grünen) die besten Noten, als sie die Parteiprogramme auf Zukunftsfähigkeit testete.

Vom Spitzenpersonal der Volksparteien führt niemand das Thema im Munde – abgesehen von Oskar Lafontaine. Der SPD-Vorsitzende versteht es wie kein anderer, am Beispiel der Ausbildungsförderung (Bafög) die Unsinnigkeit und Ungerechtigkeit christliberaler Politik zu verdeutlichen. Lafontaine dürfte es auch gewesen sein, der es der Koalition vermasselte, mit dem Hochschulrahmengesetz die Fassade einer gelungenen Reform aufzustellen. Weil die Christliberalen ein Verbot von Studiengebühren ablehnten, verweigerten die SPD-Länder dem Rahmengesetz das Jawort. Allein, wer Lafontaine an seinen Taten als Regierender mißt, muß ihm in seinem Saarland die denkbar schlechtesten Noten geben. Nach den Abwicklungen in den Neuen Bundesländern und den immer noch beispiellosen Zerstörung von Bildungskapazitäten in Berlin (minus rund 60.000 Studienplätze in zehn Jahren) schränkt Lafontaine im Saarland die Möglichkeiten zur Bildung am stärksten ein. Nur die protestierenden Studenten und aufmerksame Verwaltungsrichter dürften, wie es aussieht, den verfassungsmäßig problematischen Kahlschlag der Saar-Uni abmildern.

Der Fall Saarbrücken steht exemplarisch für die Komplexität von Bildungsreformen insgesamt: Für eine Region, der gar nichts anderes übrig bleibt, Kohle und Stahl gegen Know-how und Bildung zu tauschen, wird eine hochdotierte, aber wenig legitimierte Planungskommission angeheuert. Deren Vorschläge verändert die Regierung mehr oder weniger willkürlich – und setzt der Universität das Messer auf die Brust, die schmerzhaften Einschnitte selbst zu beschließen. Die mit der politischen Macht an der Uni ausstaffierten Professoren parieren, sofern sie den abgewickelten Fächern nicht angehören. Der Rest tut sich mit den Studierenden zusammen, um wunderbare, verspätete Konzepte zu entwerfen: verpaßte Gelegenheiten.

In der Tat steckt aber die staatliche Seite in einem doppelten Dilemma. Die Hochschulen sind wegen ihrer undemokratischen inneren Verfaßtheit quasi unfähig zur Reform. Von Staats wegen Druck auszuüben hat sich indes als wenig segensreich erwiesen. Zum anderen sind die Hochschulen zwar hoffnungslos unterfinanziert. Aber in die verkrusteten Strukturen des staatlichen Haushalts- und Dienstrechts kann man niemandem empfehlen, auch nur eine zusätzliche Mark zu investieren. Studierende, Professoren und staatliche Stellen finden einfach nicht zueinander – um etwa Studienreformen zu vereinbaren. Deswegen hat der Rahmengesetzgeber im Bund letztlich von oben die Studienzeiten begrenzt.

Die Parteien können in dem unausgetragenen Konflikt kaum vermitteln. Obwohl die Studis immerhin fünf Prozent der Wahlberechtigten stellen und sich im Studentenstreik letzten Jahres lautstark zu Wort gemeldet haben, kümmern sich die Parteien nicht um sie. Zum Leidwesen ihrer Nachwuchsorganisationen. „Freiwillig geht die Parteispitze nicht an die Unis“, beklagt die Bundesvorsitzende der Jungen Liberalen, Sandra von Münster. Und die Jungssozialistin und Studentenvertreterin in Düsseldorf, Juliane Seifert, meint über ihre Mutterpartei: „Die SPD ist tendenziell taub, was die Probleme der Studierenden angeht.“

In den Allgemeinen Studentenausschüssen (Asten) herrscht Unverständnis über die Situation. Volker Trox vom Asta der Universität Dortmund, eines der Zentren des letzten Streikherbstes, beschreibt die Stimmung als „Desinteresse, das auf Gegenseitigkeit beruht“. Er vermutet, daß „wir sogar Helmut Kohl auf den Campus einladen könnten – und er würde noch nicht einmal mit Eiern beworfen.“ Asta-Chefin Wilhelmine Dohmen von der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen wundert sich indes über die Blindheit der Parteien. „Die reagieren auf Studierende doppelzüngig: Zum einen betrachtet man uns als das Zukunftspotential dieser Republik. Zum anderen werden wir als mündige Bürger nicht ernstgenommen.“

Wilhelm von Humboldt, der Gründer der Universität der Moderne, dachte da ganz anders. Sein Bildungsideal zielte gerade auf das Mündigwerden der jungen Leute. Aus diesem Grund öffnete er die Pforten der Gelehrtenakademien auch für Studenten, damit sie an der Wissenschaft ihre Persönlichkeit ausbilden könnten.