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Die letzten Krieger von Dranske

Der ehemalige Militärstützpunkt im äußersten Nordwesten der Insel Rügen verkommt nach politischen Fehlern zu einem verlassenen Ort, an dem es nur die NPD noch leicht hat  ■ Von Heike Haarhoff

Dranske, zu DDR-Zeiten größter Marinestützpunkt des Landes, ist heute zwangsverwaltet: Die Gemeinde im Nordwesten Rügens ist hoch verschuldet, und wer irgend kann, haut ab. Wer bleibt, sind die Sozialfälle, die Flüchtlinge, die Jugendlichen ohne Führerschein. Einzige Hoffnung ist ein neues Tourismusprojekt auf dem Bug. Hier hat die NPD den Neonazi Manfred Roeder als Direktkandidaten für den Bundestag aufgestellt.

Sebastian hat das Flugblatt als erster ergattert. Ein lächelnder Herr im Rentenalter ist darauf abgebildet. Er hält einen daumenlutschenden Jungen auf dem Arm, und über dem Foto liest Sebastian halblaut den Wahlkampfslogan ab: „Es geht um die Zukunft unserer Kinder. Manfred Roeder, Direktkandidat. NPD“.

Als Sebastian geboren wurde, etwas mehr als 16 Jahre ist das her, da wurden nur wenige Worte verloren über die Zukunft von Kindern wie ihn, jedenfalls wenige sorgenvolle. Denn in Dranske, dem einst größten Marinestützpunkt der Nationalen Volksarmee im äußersten Nordwestzipfel der Insel Rügen, lebte es sich zu DDR-Zeiten ganz gut: „Hier drinnen gab's Bananen, und draußen gab's keine“, sagt der ehemalige Fregattenkapitän und heutige Bürgermeister Klaus Richter (PDS), wenn er den Glanz der alten Zeiten beschwören will.

Sebastian steigt die ausgetretene Treppe zum Luftschutzkeller hinab. Hier ist der Jugendclub untergebracht. Spärliches Licht, ein Kicker, Cola-Kisten, und jeden Freitag gibt's Disco mit den DJs Sebastian oder Kay. Ein achtjähriger Knirps starrt angestrengt auf den Computerbildschirm in der hinteren Raumecke, den Joystick fest umklammert. Es ist der einzige Jugendclub in Dranske. 2.700 Menschen leben in dem Ort, die meisten wollen weg, bereits 1.000 haben den Plattenbauten an der Ostseeküste den Rücken gekehrt seit 1989, als das Militär ab- und die Arbeitslosigkeit einzog. „Gucken Se mal, Frau Jesche“, ruft Sebastian, „irgendwie ham die doch recht?“ Die Frau hinter der Theke im Jugendclub, die Sebastians Mutter sein könnte und mit ihrer Dauerwelle auch so aussieht, betrachtet die braune Propaganda eingehend. „Arbeit zuerst für Deutsche!“

Frau Jesche hat die ABM-Stelle im Jugendclub erst seit ein paar Monaten. Sie hat als Näherin gearbeitet, ihr Mann war Soldat auf dem Bug. Aber dann war erst der Mann weg und später auch der Job. Maria Jesche, 47, glaubt an gar nichts mehr. „Ist ja alles gut und schön“, murmelt sie, „hat der Kohl so ähnlich auch schon mal versprochen.“ Sie räuspert sich. „Nein, Sebastian, das ist...“

Die Tür geht auf, drei Männer Anfang 20 – kurz geschorene Haare, Bomberjacken, Springerstiefel – spazieren herein, und Frau Jesche verschlägt es für einen kurzen Augenblick die Sprache. Ob sie ihnen wohl „drei Kaffee, bitte“ servieren könne? Niemand bekommt jemals etwas an den Tisch gebracht im Jugendkeller; Getränke müssen bitte schön an der Theke abgeholt werden, darauf legt Frau Jesche großen Wert, und dann sagt sie „Kaffee nicht, aber Kakao können Sie haben“, seufzt leise und balanciert die drei Tassen an den Tisch.

Die drei sind NPD-Wahlhelfer und haben draußen im Nieselregen Straßenlaternen, Baumstämme und Pfähle mit ihren Plakaten behängt, auf denen Manfred Roeder zu sehen ist. Er konkurriert am Sonntag um das Direktmandat im Wahlkreis Rügen/Stralsund mit der mecklenburgischen CDU- Landeschefin und Bundesumweltministerin Angela Merkel (CDU). Die NPDler wärmen sich im Jugendclub auf. Maria Jesche zuckt die Schultern. „Sie benehmen sich ordentlich, sie haben bezahlt.“ Warum also sie rausschmeißen? fragt auch ihre Kollegin Adelheid Böhnke. „Wir haben die Wurfsendungen von den Rechten doch sowieso im Briefkasten“, meint sie. Sie ist 54, gelernte Verkäuferin und ebenfalls AMB-Kraft. Pädagogisch ausgebildetes Personal „läßt unsere finanzielle Situation nicht zu“, bedauert der zuständige Kreissozialdezernent Christian Schnitzer.

Die NPD weiß, wo sie diejenigen abholen kann, die vor lauter Perspektivlosigkeit nur noch „Protest“ wählen – falls sie sich überhaupt zur Wahlurne schleppen. Dranske ist so ein Ort. Bald jeder dritte hat keinen Job, viele zahlen ihre Miete nicht mehr – und, wie zur Ironie, parkt vor dem örtlichen Supermarkt ein Trabi mit dem Heckaufkleber „Die Zukunft liegt schon hinter uns“. Das Geld reicht bei den meisten gerade für zwei Korn an der Trinkhalle um die Ecke. „Sobald ich ein Auto unterm Arsch habe, bin ich weg von hier“, steht für die 14jährige Marleen fest.

Als die Schulden der Gemeinde im Juli die Marke von drei Millionen Mark überstiegen, griff die Kreisverwaltung durch: Dranske ist seitdem zwangsverwaltet, und Bürgermeister Klaus Richter, 57, mußte zum zweiten Mal nach seiner Absetzung als Fregattenkapitän erleben, wie er „entmachtet“ wurde: „Die Schlüssel abgenommen haben sie mir“, klagt er, „ich komme nicht mal mehr ins Bürgermeisteramt!“ Dabei hatte Richter es immer „nur gut gemeint“.

Kurz nach der Wende, als in Dranske so gar nichts mehr militärisch geordnet verlief, beschloß der Gemeinderat, zumindest den Wohnraum vor westdeutschen Spekulanten zu sichern. Für satte neun Millionen Mark gingen die alten NVA-Plattenbauten – insgesamt 905 Wohnungen in elf Blöcken – vom Bundesvermögensamt in den Besitz der Gemeinde über. „Natürlich fühle ich mich verarscht“, sagt Richter heute. Rückblickend weiß er: Der Preis war überhöht, der Kredit nicht zurückzuzahlen, der massenhafte Auszug der Dransker programmiert. 270 Wohnungen stehen jetzt leer. „Unter mir ist eine Wohnung frei, über mir ist eine Wohnung frei, da kriegt man schon manchmal Angst“, sagt Maria Jesche. Sie wird auch ausziehen, spätestens im nächsten Jahr – ins Erzgebirge, „denn was nützt mir hier der schönste Ostseeblick. Im Erzgebirge habe ich einen Bekannten.“

„Sie wissen gar nicht, wie schön es hier einmal war“, schwärmt Adelheid Böhnke, und die 15jährige Wiebke neben ihr nickt. Ein Schwimmbad hatten die Dransker, dreimal in der Woche wurden im „Haus der Armee“ direkt am Ostseestrand, wo heute der Putz abblättert und die Fenster vernagelt sind, kostenlos Kinofilme gezeigt. Die Silvesterbälle mit den Offizieren sind unvergessen. „Damals hat keiner gewagt, auch nur über den Rasen zu latschen“, erinnert sich Maria Jesche. Und heute?

Sperrmüll lagert vor den Wohnungseingängen. Wer auszieht, macht sich nicht mal mehr die Mühe, die ausrangierten Möbel abtransportieren zu lassen. „Ja“, sagt ein Rentner, der im Müll stöbert, „eine kleine rechte Szene gibt's hier. Wohnen da hinten.“ Er zeigt auf einen Hauseingang am Ende des Blocks. „Blood and Honour, Division Deutschland“ klebt an der Tür, direkt neben „Betteln und Hausieren verboten“. Aber der Skin, der die Tür öffnet, mag nicht sprechen mit der Presse.

„Viel zu viel fremdes Volk“ wohne inzwischen in Dranske, sagt Adelheid Böhnke. Schon achtjährige Jungs, berichtet Kay, der deswegen „Polizist werden will“, gingen in „den Asi-Vierteln“ aufeinander mit Messern los. Der Jugendclub ist einer der wenigen friedlichen Orte. „Einen ganz schlechten Ruf“ habe der Ort bekommen, nicht zuletzt „wegen der Ausländer“. Maria Jesche klingt verzweifelt. 300 Flüchtlinge hat die Gemeinde Dranske in den leerstehenden Plattenbauten einquartiert. „Aus allen Dörfern schicken sie uns diejenigen her, die sie bei sich nicht haben wollen“, spricht eine Passantin aus, was die Kreisverwaltung in Bergen empört abstreitet. Man habe eben wenigstens ein paar feste Mieteinnahmen garantiert haben wollen, verteidigt Ex-Bürgermeister Richter die Entscheidung. Für Asylbewerber übernimmt der Staat die Miete.

Ihm selbst, sagt Richter, gehe es ja auch nicht besser als den anderen. Auch er, dessen Karriere in der DDR nicht steiler hätte verlaufen können, war jahrelang arbeitslos. Und das Bürgermeisteramt ist ein ehrenamtliches, will er mal klarstellen. Er zieht an seiner Zigarette. Und ist er deswegen etwa weggezogen? Na also. „Der Richter ist ein guter Bürgermeister“, findet Maria Jesche. Trotz der ganzen Schulden. „Da kann er ja auch nichts für, und für unseren Jugendclub hat er immer was getan.“ Trotz der Misere im Ort solidarisiert man sich mit dem Mann. Zumal er im gleichen Boot sitzt wie die meisten in Dranske, die noch eigenes Geld verdienen.

Auch Fregattenkapitän Richter arbeitet heute als ABM-Kraft. Er sitzt als Projektleiter von 45 ABM- Arbeitern in einer ausgemusterten Stasi-Baracke des ehemaligen Marinestützpunkts. Seine Leute reißen alte Militärgebäude ab, pflügen den Boden und räumen den Wald auf. Ein Ferienzentrum der Nobelklasse mit 2.000 Betten will ein westdeutscher Unternehmer aus dem alten Armeegelände machen. Gegen den Widerstand von Naturschützern und vieler anderer Gemeinden auf Rügen, die das riesige Areal lieber der Natur überlassen würden und die nicht an die 500 versprochenen Arbeitsplätze im Hotelfach glauben. „Die sind doch alle nur neidisch auf uns“, meint Bürgermeister Richter bitter. „So wie früher auf die Bananen, die wir hier hatten.“

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