: Nett a porter
■ Erotisch-zwischenmenschliche Katastrophen, absolut unfinster verfilmt: "Das geheimnisvolle Kleid" von Alex van Warmerdam
Die perfekt zurechtgemachte Stewardeß blickt streng auf ihren zerknittert im Bett liegenden, dicklichen Freund: „Du bist eine Laus!“, beendet sie ihren Vortrag über seine geistigen und körperlichen Mängel, schnappt ihren Koffer und geht. Der Dicke hat noch mehr Sorgen. Seinem Chef gefallen die Stoffmuster nicht, die er abgeliefert hat. Inspiriert vom Sari seiner indischen Nachbarin zeichnet er rote Blätter wie kleine Flammen auf blauem Grund. Maschinen rattern, Scheren schnappen zu, dann hängt in einer Boutique „Das geheimnisvolle Kleid“. Kein Prachtgewand, nur ein dünnes leichtes Sommerkleid.
In Episoden, deren Ende immer der Beginn einer neuen ist, zeigt Alex van Warmerdams Film „die Wirkung auf Frauen, die es tragen, und die Besessenheit der Männer, die es verfolgen“ – so die Unterzeile des Filmtitels. Die Wirkung auf Frauen ist meist eine tödliche. Eine trifft der Schlag, eine andere erfriert. Es ist ein reines Unglücksding. Das verringert jedoch nicht die Besessenheit der Männer.
Kaum erspäht der Zugbegleiter De Smet (gespielt vom Regisseur) vom Gang aus einen Zipfel des Rocks, da erwacht in ihm die Begierde. Die Frau, die das Kleid trägt, hat er noch gar nicht gesehen. Nachts schleicht er in ihr Bett und flüstert: „Ich liebe dich.“ Die erschreckte Frau läßt sich von diesen Worten betören – wer kann schon dem Verlangen widerstehen, das er selbst erweckt? – und willigt in ein Rendezvous ein. Es endet im Desaster.
Obwohl die Männer in diesem Film sich oft zu Handlungen hinreißen lassen, die juristisch den Tatbestand der versuchten Vergewaltigung erfüllen, geht es nie wirklich finster zu. Die Sonne scheint in Van Warmerdams Holland so hell, daß jeder Winkel ausgeleuchtet ist. Keine dunklen Ecken, keine geheimnisvollen Schatten – alles liegt offen zutage.
Am rätselhaftesten ist dieser Film, wenn es am hellsten ist. Ein großes kastenförmiges Einfamilienhaus mitten in der monoton flachen Landschaft sieht so sauber und spießig aus, daß der Fremde, der dort herumschleicht, nicht bedrohlich, sondern nur komisch wirkt. Im Haus sitzt ein junges Mädchen. Sie trägt das Kleid und ist allein. Wieder steht ein Unbekannter im Zimmer. Diesmal gibt er Befehle. „Zieh dich aus, lächle. Nicht ängstlich. Erwartungsvoll!“ Dann muß sie sich ins Bett legen. Er legt sich dazu, schmiegt sich an ihren Hintern und sagt: „Jetzt schlafen wir.“ Anja Seeliger
„Das geheimnisvolle Kleid“. Regie und Drehbuch: Alex van Warmerdam. Kamera: Marc Felperlaan. Mit: Henri Garcin, Ariane Schluter, Ricky Koole u. a. Niederlande 1996, 103 Min.
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