: Die neue Mitte als ein sicherer Ort
■ Die Gesellschaft will Kontinuität. Deshalb wird es das Kunststück einer neuen Regierung sein, den Wechsel ohne Bruch zu organisieren
Noch bevor die Bundestagswahl 1998 gelaufen ist, hat sich die Mitte als Ort des Sieges erwiesen. Die Mitte, nicht das Abseits ist der sichere Ort. Wohl dem, der an ihm Platz gefunden hat. Nicht der Widerspruch ist gewünscht, sondern der Konsens, nicht mehr das „oder“ durchdringt die Gesellschaft, sondern das „und“. Kandinskys gleichnamiger Essay „Und“ über dieses Jahrhundert erfüllt sich an dessen Ende.
Vierzig Jahre nachdem die SPD Abschied von einer Politik des Widerspruchs genommen hat und damit die Grundlage für ihre erste Teilhabe an einer Regierung schuf, bereitet Schröder mit einer Politik des Identitären die zweite vor. Er kreierte die neue Mitte, wobei er bewußt im dunkeln ließ, worin sie sich von der alten denn unterscheide. Außer daß deren oberster Repräsentant an Lebensalter und Regierungszeit älter ist. Doch das reicht seinem Publikum, ohne daß es deshalb bereits genügsam geworden sein muß. Während die maulende Meute der professionellen Kritikaster den mangelnden Ausweis einer inhaltlichen Differenz beklagt, scheint der schweigenden Mehrheit die Identität nicht weit genug gehen zu können. Kontinuität lautet das Primat. Mit ihr nicht zu brechen, sondern in ihr den Wechsel zu gestalten ist das Kabinettstück einer künftigen Bundesregierung.
Der Bogen der Erwartungen richtet sich nach wie vor auf eine am Leitbild der Verteilungsgerechtigkeit orientierten Zugewinngemeinschaft. Dieser Bogen umschloß das Kontinuum der Bonner Republik, das rheinische Modell des Kapitalismus. Er ist nun überspannt, da dieses Modell in den letzten Jahren seine materielle Grundlage verloren hat, ohne daß eine neue Gerechtigkeitsstruktur gefunden und ohne daß dem Staat ein Mehr an Bindungsfähigkeit zugewachsen wäre. Mit der Verschlechterung der allgemeinen Lage haben sich allerdings die Ansprüche an diesen Staat erhöht, zugleich droht seine Handlungskompetenz zu schwinden.
Die Mitte ist kein vorfindlicher, kein einzunehmender Ort. Sie ist konstruiert, zusammengesetzt aus sozialen und politischen Ligaturen. Als solcher kann sie immer wieder neu geschaffen werden, darin liegt ihr diskreter Charme. In der Politik, die über zweihundert Jahre vom Widerstreit zwischen links und rechts geprägt war, wurde sie lange Zeit als wertelos gemieden. Noch Konrad Adenauer nannte sich einen Konservativen, während sich die SPD jener Zeit als Arbeiterpartei verstand. Es ist zu vermuten, daß anfangs die verfassungsrechtlich geprägte Debatte um den politischen Extremismus den leeren Ort positiv füllte. Das begründet, weshalb sich zunächst die Rechte seiner bemächtigte, während die Linke ihn mit Skepsis mied. Mit der Orientierung auf den Mittelstand fand die verfassungsrechtliche Positionierung ihre soziologische, mit der Entwicklung des korporatistischen Modells der Konzertierten Aktion ihre politische Entsprechung.
Seinerzeit fand – oder vielmehr: erfand – die Sozialdemokratie ein erstes Mal die Neue Mitte als Kombination aus sozialem und liberalem Rechtsstaat. Die formierte Gesellschaft hatte abgedankt. Schon damals war Mitte mehr Leitbild denn Realität. Dem Mittelstand entsprach eine Politik, die den unteren Schichten ein Mehr an Teilhabe sichern sollte. Das Mehr an Konsum war als Faktor eingebettet in die Globalsteuerung, das Mehr-Demokratie-Wagen war ein permissives Integrationsangebot an die revoltierende Jugend.
Die Mitte bedeutete Normalität. Sie normierte: die Kleinfamilie mit einem Ernährer, die lebenslange Erwerbsbiographie, damit verbunden den Beruf als Identitätsmerkmal und Garant gesellschaftlicher Teilhabe, die Karriere als biographische Konstante und die soziale Sicherung gegen Krankheit und Alter als Risikovorsorge. Deutschsein war staatsbürgerliche Norm.
Dieses Normengefüge der Mitte hat die Jahrzehnte überdauert und an Attraktivität kaum eingebüßt. Allerdings findet es immer weniger Entsprechung in der Bevölkerung. Eine künftige Regierungspolitik wird diese Differenz aufheben müssen. Dabei geht es um mehr als die Neujustierung materieller Interessen. Es geht um eine qualitativ andere Politik, in deren Vollzug sich neue Leitbilder entwickeln.
Diese andere Politik trägt einer Fragmentierung der Gesellschaft Rechnung, indem sie die darin liegenden Risiken durch eine Grundsicherung abfedert. Nicht allein die Aufwendungen für die Versorgung stehen dabei im Mittelpunkt, diese muß zugleich ihren gewährenden, abhängig machenden Charakter verlieren.
Die andere Politik beantwortet die Auflösung des klassischen Erwerbslebens zugunsten von Patchwork-Biographien, indem sie ein lebenslanges Lernen ermöglicht. Dieses finanziert sich auch aus dem dabei erzielten Mehreinkommen. Die andere Politik verabschiedet sich von der ehezentrierten Kleinfamilie zugunsten der Erziehungsbeziehungen. Deren Förderung und Einbettung in das Erwerbsleben muß den Erziehenden ein Leben in Würde, notfalls unabhängig vom Partner, ermöglichen.
Die andere Politik gewährleistet die gesellschaftliche Teilhabe über Arbeit durch die gestaffelte Förderung geringer Beschäftigungsverhältnisse. Um die Arbeitslosigkeit nennenswert zu reduzieren, kann dabei eine Absenkung der unteren Lohnniveaus erforderlich sein.
Die andere Politik gewährleistet die politische Teilhabe aller, indem sie einem jeden die Staatsbürgerschaft ermöglicht. Durch die politische Partizipation verringert sie die Lücken der sozialen Integration, geschlossen werden sie dadurch allein nicht. Dies bedingt vielmehr auch die Integrationsbereitschaft der Betroffenen.
Diese andere Politik trägt auch der Individualisierung Rechnung. Man kann sie links nennen, obgleich sie mit klassischen Kategorien kaum zu fassen ist. Um sie durchzusetzen, braucht es keinesfalls die omnipotente Konstellation einer Großen Koalition. Diese würde vielmehr wesentliche Ziele eigenen Vorbehalten opfern. Zu stark sind in CDU und SPD noch die Orientierungen an den alten Leitbildern. Eine Große Koalition würde vor allem den auf Absicherung angelegten Impetus einer ängstlichen Gesellschaft befriedigen. Dem muß, aber in anderer Weise, eine Regierung Rechnung tragen, die mit der Veränderung Ernst machen will. Nicht die Reformprojekte in Gang zu setzen ist die größte Schwierigkeiten für ein rot-grünes Bündnis, sondern dabei die Definitionshoheit zu gewinnen, die Mehrheit zu behalten und auszubauen. Dieter Rulff
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