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Kranke Kinder zahlen drauf

■ Prophylaxe bringt Spaltkindern wenig: Ihre Zahnprobleme sind Folge ihrer Krankheit. Trotzdem werden Eltern für den Zahnersatz der Pökse zur Kasse gebeten

Tilo Z. ist ein Wunschkind. Trotzdem war nicht alles eitel Sonnenschein, als der heute fünfjährige Springinsfeld, drittes Kind der Familie, 1992 geboren wurde. Er ist ein „Spaltkind“: Wo sonst Gaumen und Oberkiefer dem Mund eine kleine Höhle bauen, war bei ihm alles offen bis in den Nasenraum. Für Kind und Eltern begann schon kurz nach der Geburt eine medizinische Odyssee. Zahlreiche Operationen standen auf der Tagesordnung, es folgten unzählige Nachuntersuchungen; der regelmäßige Termin beim Zahnarzt gehört für den Kleinen heute ebenso zum Alltag wie der beim Hals-Nasen-Ohrenarzt.

Tilos Eltern ist die Zahngesundheit ihres Nesthäkchens seither besonders teuer. Erzwungenermaßen. Weil Tilo nämlich nach 1979 geboren wurde, gehört er zu der Generation von Kindern, für die der Gesetzgeber seit Anfang 1997 eine Erstattung beim Zahnersatz ausschließt. Eigentlich. Für Spaltkinder gibt es – ebenso wie bei Unfall-Kindern oder anderen Ausnahmen – ein kleines Trostpflaster. Für ihren Zahnersatz, sprich: für die oft notwendigen Kronen, zahlt die Kasse einen festen Zuschuß. Die für sie regelmäßig fälligen kiefernorthopädischen Behandlungen zahlt sie zu 20 Prozent. Implantate von Zähnen, Ersatz also für Beißerchen, die sich im Kiefer vielleicht niemals gebildet haben, gehören dagegen „nicht zur vertrags- bzw. kassenärztlichen Leistung“. Die Erstattung der in der Regel vergleichsweise teuren Behandlung ist ganz gekippt.

„Das kann teuer werden“, bestätigt Andreas Bremerich, Kiefern-Lippen-Gaumenspalten-Experte in der Sankt Jürgen-Klinik, wo rund 1.700 SpaltpatientInnen in Behandlung sind. Dabei seien die Kosten für die Behandlung der Kinder nur ein Bruchteil der Summe, die später auf die Erwachsenen zukomme, sagt Bremerich. Behandlungskosten um 30.000 Mark seien bei Implantaten zwar nicht die Regel – aber auch nicht der pure Einzelfall. Tilos Mutter sagt: „Wenn der Junge Zähne braucht, streichen wir den Urlaub.“ Die Gesundheitsreformer müssen diese Folgen gekannt haben. Familien, die mehr als ein Spaltkind haben, bekommen für die Kiefernorthopädie einen zehn-prozentigen Rabatt fürs zweite Kind.

„Wir stehen nicht gut da“, sagt auch die Lilienthalerin Uta Seegebarde, Mutter eines betroffenen Jungen. Sie gehört zu einer von vielen bundesweiten Selbsthilfegruppen, deren Zentrale im hessischen Hüttenberg liegt. Von der dortigen „Wolfgang Rosenthal-Gesellschaft“ aus koordiniert die Sozialpädagogin Regine Tödt den Kampf mit den Kassen – durchaus subversiv, ohne schlafende Hunde zu wecken. Denn vieles hänge von der Kulanz der verschiedenen Krankenkassen ab, sagt sie. Und die sei doch sehr unterschiedlich. „Die Kosten, die auf die einzelne Familie zukommen, sind deshalb schwer zu beziffern.“ Und außerdem, so betont sie, seien Kosten nur ein Aspekt der Krankheit, die immer noch zu sozialer Stigmatisierung führe. Dies sei für Eltern allgemein weit schwieriger zu ertragen als die beispielsweise 30 Mark im Vierteljahr, die sie allein für die Besuche ihres Spalt-Kindes „zum Nachschauen“ beim Kiefernorthopäden zahlt.

„Unser Gesundheitsminister argumentiert ja, daß finanzielle Eigenbeteiligung zu mehr Erfolg bei der Behandlung führt“, erklärt Regine Tödt den Stand der Dinge, den sie in Rundbriefen an Eltern und Betroffene als „wenig positiv verändert“ bezeichnet. Dabei kann man sie am Telefon förmlich den Kopf schütteln hören. Auch auf die Wahlversprechen von SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder im SPD-Startprogramm, nach dem „Jugendliche ab Jahrgang '79 künftig wieder Zahnersatz erhalten“ sollen, reagiert sie mit „abwarten“. Stattdessen gibt sie praktisch kostendämpfende Tips: Eltern Neugeborener müßten versuchen, eine zahnärztliche Zusatzversicherung für ihr Baby abzuschließen.

Das allerdings hat die Familie Z. versucht. Vergeblich. Niemand wollte den kranken Tilo, einen absehbaren Kostenfaktor, aufnehmen. Die Bremer Verbraucherzentrale, die über private Vorsorge informiert, bestätigt: „Nach dem Prinzip der Vertragsfreiheit können die Versicherungen ablehnen.“

ede

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