: Parole: Keine Gefangenen
■ In mehreren lateinamerikanischen Ländern ist die Polizei während der letzten Jahre immer gewalttätiger geworden. Bei Festnahmen in den Armenvierteln der Metropolen wird nicht lange gefackelt, in Rio de Janeiro etwa kommen inzwischen auf jeden Verletzten drei Tote. Gefördert wird die Brutalität der Beamten durch „Tapferkeitsprämien“, mit denen sie ihr Salär aufbessern.
Luis Paulo da Silva Garcia wurde am Abend des 20. September 1996 von zwei Militärpolizisten im Norden Rio de Janeiros festgenommen. Kurz davor hatte er die 30jährige Kellnerin Franzisca Maria Lopes Farias überfallen und ausgeraubt. Gemeinsam mit der Kellnerin und ihrem Ehemann wurde er auf die Wache gebracht, später ins Polizeipräsidium. Die Polizisten schlugen ihn. Auf der Rückfahrt zur Wache zog einer der Militärpolizisten im Auto seine Pistole, setzte sie an den Hinterkopf Silva Garcias und drückte ab. Die Kugel durchschlug den Kopf, trat durch ein Auge wieder aus und hätte durchaus auch Franzisca Maria Lopes Farias treffen können, die im Auto in der Schußlinie saß.
Bekannt wurde der Fall Wochen später. Journalisten hakten nach, und die Polizeiführung beeilte sich, die Hinrichtung als skandalösen Einzelfall darzustellen. Fest steht jedoch: Die Polizisten der brasilianischen Metropole sind in den letzten Jahren immer gewalttätiger geworden. Sie dringen in die Favelas ein, die Armenviertel Rios, schießen wild um sich, hinterlassen Tote – und werden sogar noch dafür belobigt, „dem Feind“ Verluste beigebracht zu haben. Aber in Rio zeigt sich nur die Zuspitzung einer Entwicklung, die ganz Lateinamerika erfaßt hat.
Guayaquil, Ecuador, 19. August 1997: Eine Spezialeinheit der Polizei kontrolliert ein Auto – und erschießt alle drei Insassen. Offizielle Begründung: Es habe sich um eine Verbrecherbande gehandelt. Schußwaffen und eine Granate, die im Wagen gefunden worden seien, werden als Beweise präsentiert. Die Angehörigen protestieren, können sogar eine Untersuchung durchsetzen. Ergebnis: Die Beweise sind gefälscht, im Auto befanden sich keine Waffen, nur drei leere Bierflaschen. Die Hintergründe sind unklar.
Am 12. Januar dieses Jahres stirbt in einer Klinik in Chiles Haupstadt Santiago der 55jährige Taxifahrer Raúl Palma Salgado, der 24 Stunden vorher von den Carabineros, der chilenischen Polizei, festgenommen worden war. Offizielle Begründung für seine Verletzungen: ein Sturz in der Gefangenenzelle des Polizeiwagens. Tatsächlich jedoch stellen die Ärzte Spuren systematischer Folter fest. Auch dies kein Einzelfall: Die Rechtshilfeinstitution Corporación de Asistencia Judicial hat allein 1997 über 400 Fälle polizeilicher Folter registriert. Täter sind nicht nur alte Diktaturschergen; die Polizisten, die im Falle des getöteten Taxifahrers – ausnahmsweise – zur Rechenschaft gezogen werden, sind allesamt erst nach dem Ende der chilenischen Diktatur (1973-1990) in den Polizeidienst eingetreten.
In Argentinien kamen bei Polizeieinsätzen 1995 insgesamt 195 Zivilisten ums Leben, davon 135 allein im Großraum Buenos Aires. Menschenrechtsorganisationen werfen der argentinischen Polizei Folter im Verhör und brutales Vorgehen gegen Gefangene in Polizeihaft vor. Die Aufklärungsquote ist verschwindend gering, immer wieder wird hingegen bekannt, daß Polizisten und Gangs unter einer Decke stecken.
Auch wenn die Täter oft junge Leute sind, so ist es doch auch die alte Struktur der Polizeiapparate, in vielen lateinamerikanischen Ländern noch immer dem Militär angegliedert, die das Selbstverständnis der Polizisten prägen. Sie können in aller Regel davon ausgehen, für ihre Verfehlungen nicht belangt zu werden. Die Geschlossenheit des Apparates garantiert die impunidad, die Straffreiheit. Ermittlungsmethoden, die illegale Gewaltanwendung im Verhör einschließen, werden bestenfalls als Kavaliersdelikt angesehen. Nur in seltenen Fällen vermittelt die Ausbildung überhaupt eine Idee von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit.
Die zunehmende Kriminalität in nahezu allen lateinamerikanischen Ländern steigert das Sicherheitsbedürfnis insbesondere der städtischen Mittelschichten. Aber die Haushaltskürzungen im Rahmen der neoliberalen Anpassungsprogramme sorgen dafür, daß die Polizisten immer schlechter ausgestattet, ausgebildet – und bezahlt werden. Zum Credo eines jeden Polizisten gehört die Überzeugung, er habe ein Anrecht darauf, unter Ausnutzung seines Jobs sein Salär aufzubessern; mit Ausnahme der chilenischen pacos gelten Lateinamerikas Polizisten als hochgradig korrupt. „Generell“, schreiben Peter Waldmann und Carola Schmid vom Augsburger Institut für Soziologie, „ist für die Berufswahl weniger der Wunsch bestimmend, der Allgemeinheit zu dienen, als vielmehr die Aussicht auf ergiebige Nebenverdienste.“
In dem Maße, wie das Sicherheitsbedürfnis der Ober- und Mittelschichten Lateinamerikas steigt, boomen die privaten Sicherheitsdienste. Viele Polizisten arbeiten im Nebenjob auch noch für die Privaten – die Grenze zwischen Staatsdiener und Bodyguard der Wohlhabenden verwischt immer weiter. Polizisten sind es, die dafür sorgen, daß Arme, Straßenkinder und Obdachlose gar nicht erst in die überall entstandenen Konsumpaläste hineinkommen. Wenn sie dabei, etwa in Brasilien oder Argentinien, Straßenkinder einfach umbringen, sind große Teile der Öffentlichkeit nur zu gern bereit zu applaudieren.
Lateinamerikas Städte sind Schauplatz einer immer strikteren sozialen Segregation – die Polizisten sichern sie ab. Das antikommunistische Feindbild der 60er und 70er Jahre ist passé, doch die Angst vor den Armen ist geblieben. Auch die Antworten sind die gleichen: ein Sicherheitsapparat, der sich verselbständigt, der mordet und die Gesetze mißachtet. Vom Aufbau eines Rechtsstaates, wie ihn die demokratischen Kräfte nach den Diktaturen wollten, sind die Länder Lateinamerikas wieder weit entfernt. Bernd Pickert
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