: Der Osten wählt modern
■ Die CDU hat in Ostdeutschland die Wahl verloren. Ursache ist ein wieder erstarktes Sozialstaatsempfinden der gelernten DDR-Bürger
Dresden (taz) – „Die Ost- Kenntnisse von Kohls Wahlmanschaft waren mangelhaft“, sagt Dr. Bernhard Boll, der sich als Parteienforscher an der Hallenser Uni auf die neuen Bundesländer spezialisiert hat. Die Quittung kam am Wahltag prompt: Während die CDU im Westen „nur“ 4,5 Prozent der Stimmen verlor, büßte sie in Ostdeutschland satte 11,2 Prozent ein.
Besonders schlimm erwischte es die ostdeutsche CDU-Hochburg Sachsen. Hier, wo Kurt Biedenkopf seit der Wende mit einer komfortablen Mehrheit allein regieren kann, votierten nur noch 32,7 Prozent – 15,3 Punkte weniger Wähler als 1994 – für die Christdemokraten. Dieser erdrutschartige CDU-Verlust kam überraschenderweise aber nicht der SPD zugute. Während 4,8 Prozent mehr Westdeutsche als 1994 ihr Kreuz bei Rot machten, waren es im Osten nur 3,6 Prozent.
„Das Sozialstaatsempfinden der ehemaligen DDR-Bürger ist wieder stärker in den Vordergrund gerückt“, erklärt Prof. Christian Fenner von der Uni Leipzig. „Die CDU wird im Osten nicht mehr als die Partei der sozialen Marktwirtschaft angesehen, weil die Erfahrungswerte der Menschen andere sind.“ Da die CDU eben nur noch für Marktwirtschaft stehe, sei der Einbruch logische Konsequenz. Zahlen belegen diese These: Bei Arbeitern, die vor vier Jahren noch an die blühenden Landschaften glaubten, verlor die CDU 14 Prozent. Bei Frauen über 60, die zu den treuesten CDU-Wählern überhaupt gehören, büßten die Christdemokraten 15 Punkte ein.
„Daß die SPD hingegen nur verhältnismäßig wenig Stimmen gewonnen hat, liegt einerseits an der PDS und andererseits an der SPD selbst“, erklärt Politikwissenschaftler Fenner. Durch ihre Orientierung zur Mitte hätten die Sozialdemokraten linke Positionen aufgegeben, damit linke Wähler an die PDS verloren. Mit einem Plus von fast 2 Prozent spiegelt sich dies im Wahlergebnis wieder. „Die SPD-Orientierung zur Mitte ist auf Jahre hinaus die Konsolidierungschance für die PDS.“
Der Hallenser Parteienforscher Boll glaubt zudem, „daß die Ostdeutschen die moderneren Wähler“ seien. Anders als im Westen sei im Osten die Sozialstruktur nicht für eine Stimmabgabe maßgebend. „Es gibt hier nicht diese traditionelle Parteienbindung wie im Westen. Die Ostdeutschen gucken noch mehr auf die programmatische Ausrichtung.“ Habe der CDU diese nach dem Abwürgen der Zukunftsdebatte von Wolfgang Schäuble völlig gefehlt, so sei die SPD wenigstens zum Ausformulieren ihres Slogans „Wir machen nicht alles anders, aber vieles besser“ bereit gewesen. Die zehn Tage vor der Wahl gestartete „Blühende-Landschafts-Kampagne“ der CDU wertet Boll als eine mißglückte Beweisführung der Politik, mit der Kohl in Ostdeutschland vor Jahren angetreten ist.
Das ostdeutsche Wahlergebnis zeigt zudem, daß Rechtsradikalismus – anders als oft behauptet – kein ostdeutsches Phänomen ist. „In westdeutschen Problemregionen ist die Zustimmung zu rechten Parteien genauso hoch wie in Ostdeutschland“, so Prof. Fenner. Das Ergebnis zeige deutlich, daß der DVU-Erfolg in Sachsen-Anhalt ein reines Protest-Ergebnis ist. „Die PDS ist dort als Quasi-Regierungspartei wahrgenommen worden, eignete sich also nicht für Protest.“ Am vergangenen Samstag machten lediglich 3,2 Prozent der Sachsen-Anhalter ihr Kreuz bei der DVU.
Rechnet man die SPD-Stimmen mit denen für die PDS im Osten zusammen, ergibt sich dort mit fast 57 Prozent eine klare linke Mehrheit. Fenner sieht in diesem Umstand die Sozialstaatsthese bestätigt und glaubt, daß sich der Trend weiter fortsetzen wird. „Auch in Sachsen wird das wieder erstarkte Sozialstaatsempfinden der CDU bei den Landtagswahlen im nächsten Jahr keine absolute Mehrheit mehr bringen.“ Auch wenn Regierungssprecher Michael Sagurna dies anders sieht: „Bei dieser Wahl ging's um den Bundestag. Laut Umfragen steigt die Zustimmung für Biedenkopfs Regierungsarbeit sogar“. Die sächsische PDS bereitet sich unterdessen auf eine Machtübernahme vor. Parteichef Porsch: „Das war der erste Schritt zu Biedenkopfs Abwahl.“ Nick Reimer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen