: "Wo ist hier der Potsdamer Platz?"
■ Über eine Million Berliner und Berlinerinnen zog es bis gestern zur Daimler-City am Potsdamer Platz. Dort fanden sie Gedränge in der Shopping-Mall und vor den Würstchenbuden. Impressionen von einer kolle
„Wurstmaxe ist ein Türke“, flüstert ein Mann in Jeanswear seiner Frau zu. Die reicht ihm grade zwei Thüringer Rostbratwürste. Neben Wurstmaxes Bratwurststand, an dem sich eine passable Schlange gebildet hat, verteilen uniformierte Mädchen Plastiktüten. Auf den Tüten steht: Berliner Kurier. Der ist auch drin. „Eine Million stürmen den Potsdamer Platz“, lautet die Schlagzeile. Es ist also vollbracht. Der Potsdamer Platz ist in Berlin angekommen und der Berliner am Potsdamer Platz.
Stop and stop and go. In den Arkaden, der glasüberdachten Shopping-Mall, herrscht eine urbane Dichte, vor der selbst Stadtplaner Angst hätten. Fast jeder schaut auf seine Vorderfrau oder deren Schuhwerk. Wer auf die Schaufenster schauen will, muß stehenbleiben. Wer stehenbleibt, wird weitergeschoben. Weiterschieben ist in der Hausordnung der Arkaden nicht vorgesehen. Vorgesehen sind die Dinge, die keine Zuwiderhandlungen sind. Mit Zuwiderhandlungen hat der Arkadenbetreiber ECE nämlich Probleme. Auch orthographische. Mal wird in der Hausordnung zuwieder-, mal zuwidergehandelt. Zumindest ordnungspolitisch steckt der Potsdamer Platz noch in den Kinderschuhen.
Auf der Schellingstraße huschen zwei Skater vorbei. Wo nehmen sie den Platz her? „Häßlich- City“, ruft einer dem andern zu. Der fährt weiter, als hätte er nichts gehört und nichts gesehen. Was ist häßlich, was ist liebenswert?
Auf dem Marlene-Dietrich- Platz wird geworben. Für das Stella-Musical „Der Glöckner von Notre-Dame“ und für „R1“. Mit seinem schnittigen Vordach und den Videoleinwänden gibt sich das Musical-Theater ganz als urbaner Show-Case. Der öffentliche Platz als kollektives Wohnzimmersofa, seine „Bespielung“ ein in den Stadtraum vergrößertes Werbefenster des Privatfernsehens. Und auch hier wieder: Würstchenbuden, Würstchenbuden, Würstchenbuden.
Wenn der Postdamer Platz eine Rückseite hat, ist es die Linkstraße. Die Linkstraße ist die östliche Begrenzung der Daimler-City. In der Linkstraße gibt es nur Schaufenster, keine Geschäfte. Die Türen der Schaufenster sind Notausgänge. Die Eingänge sind woanders, weiter westlich, in den Arkaden. So dementiert die eine Seite, was die andere verspricht.
Ist das Gegenteil von Rückseite eine Vorderseite? Die Summe von Vorderseiten Zentrum? „Wo ist der Potsdamer Platz?“ will ein Junge von seiner Mutter wissen. Die kann ihm auch nicht helfen. Eine Million sind auf der Suche nach einem Zentrum, das man ihnen versprochen hat und finden nur – Rummelplatz.
Oder sind die Besucher selbst das Zentrum? Die Daimler-City nur der Ort für die Wiederauferstehung des Berliners als kollektives Ereignis? Wann hat es das zuletzt gegeben, daß nahezu jeder, der noch oder schon laufen kann, binnen kürzester Zeit das gleiche Ziel hat? Nicht einmal bei der Reichstagsverhüllung, dieser zivilen Vergesellschaftung von Individuen. Doch Vorsicht! Die Selbstdefinition des Berliners am Potsdamer Platz ist weniger ein Sieg der Konsumgesellschaft als vielmehr die Vergesellschaftung kommerzieller Zaunkönige.
Soviel Gleichschritt schärft den Blick fürs Abseits. Auf einem Bretterhaufen sitzt einer und klebt Sondermarken in ein Album. Bei „Hardys im Huth“ herrscht gediegene Atmosphäre bei Wein, Champagner, Kork und Kerzen. In den Arkaden kehrt eine Reinigungskraft gegen den Strom. Ein Altlinker meint, daß er Angst hätte, hier zu klauen. „Man weiß ja gar nicht, welche Alarme dann hier angehen und welche Türen sich schließen.“ Ein Tourist studiert den Stadtplan. Doch der ist veraltet. Keine Voxstraße, keine Varian-Fry-Straße, kein Fontaneplatz. In der Stadt der Investoren navigiert es sich mit anderen Instrumenten als in der der Stadtväter.
Auf der Leipziger Straße ist es inzwischen dunkel geworden. Wie selbstverständlich haben sich die Fußgänger die Fahrbahn erobert. Es sind nicht diejenigen, die in Richtung Potsdamer Platz strömen, sondern die, die ihn so verlassen, wie sie ihn bestaunt haben: geduldig und stumm. Uwe Rada
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