: Blauer Portugieser im hohen Norden
Weinlese in Hamburg: Am Sonnabend wurde der '98er Eimsbütteler Hinterhöfchen geerntet. In Kälte, Sturm und Regen wurden die Trauben ganz ohne aufwendige Pflege größer als Erdnüsse ■ Von Gernot Knödler
Für Günter Vollmer hängt keine Traube zu hoch. Der Endfünfziger mit dem grauen Bürstenhaarschnitt steht auf einer Aluleiter und schnippelt blauen Portugieser vom Blätterdach über dem Hinterhof der „Weinstuben Lehmitz“ in Eimsbüttel. Das Traditionslokal hat zur alljährlichen Weinlese geladen.
Zwanzig bis dreißig Leute sind am Sonnabend dem Ruf gefolgt: vom Althippie mit Zopf und Hütchen über Lederjackenträger bis zu Vollmer in Schlips und Kragen. Mit Eimerchen und Schere bewaffnet stehen sie zwischen Tischen aus zersägten Weinfässern und spähen nach den trächtigsten Trieben.
Ursula Lehmitz, die Herrin des Hauses, läßt roten Sauser reichen – halb vergorenen Traubenmost – und erklärt, was es mit den Reben zwischen Hamburger Mietskasernen auf sich hat: „Vor 35 Jahren sagte mein Mann: Wir könnten doch hinten im Hof ein paar Weinstöcke pflanzen.“ Mitten im trüben Hamburg – was sich wie der weinselige Traum eines verhinderten Winzers anhörte, wurde zu einem Markenzeichen.
Ohne aufwendige Pflege haben die Reben Kälte, Sturm und Regen überstanden. Sie brauchten nicht gedüngt zu werden, weil sie bis zu zehn Meter tiefe Pfahlwurzeln in die Erde treiben, und gespritzt wurden sie auch nicht: „Die Reblaus würde hier nicht überleben“, weiß Gastromin Lehmitz, „die hat hier kein ausreichendes Betätigungsfeld.“
Zwar sind die ursprünglich gepflanzten weißen Muskat-Weinstöcke bis auf ein kümmerliches Exemplar eingegangen, aber der blaue Portugieser wächst an vier Stellen des Hofes armdick aus der Erde. Mehr als 100 Liter Traubensaft spenden die Reben in guten Jahren, sagt Ursula Lehmitz. Und wenn es nicht gar zu oft regnet hier im hohen Norden, dann könne sich die Qualität der Trauben sogar mit denen vom Kaiserstuhl messen: Im Hinterhöfchen sind sie geschützt und können ungestört Sonne tanken.
Allerdings geraten sie in der Regel etwas klein: ungefähr so groß wie Jumbo-Erdnüsse. Das liegt daran, daß die vier Weinstöcke den ganzen Hof überdachen müssen. In richtigen Weinbergen dagegen werden sie kurz gehalten. „Da geht die ganze Kraft in die Trauben“, sagt Frau Lehmitz. Ein, zwei Scherenschnitte und Günter Vollmers Eimerchen wäre voll. Hier in Eimsbüttel braucht selbst Vollmer, der als Fliesenleger körperliche Arbeit gewohnt ist, fünf Minuten für eine Füllung.
Die geernteten Trauben werden zunächst in eine Mühle geschüttet. Die steht ein paar Schritte weiter, ist mehr als hundert Jahre alt und sieht aus wie eine Schubkarre mit einer Kurbel an der Seite. Hier werden die Beeren aufgequetscht, so daß es der Mann an der Presse nachher leichter hat.
Nach rund einer Stunde ist die Ernte im wesentlichen eingebracht, die ersten Helfer laben sich am Zwiebelkuchen – nur Günter Vollmer hat noch nicht genug: „Ich hab' nur eine Auszeit genommen“, beklagt er sich. Zu spät: Was jetzt noch kommt, muß gegessen werden. Bernd Lehmitz, der Juniorchef, wirft die Presse – oder „Kelter“, wie Winzer sagen – an: einen großen Holzbottich mit Schlitzen an der Seite und einer grünen Rinne am unteren Rand. Mit einem großen Hebel schraubt er den Stempel nach unten, leuchtend rot rauscht der Saft in die bereitgestellten Kupferkannen.
Es kommt die Stunde der Wahrheit: die Bestimmung des Öchsle-Grades. Bernd Lehmitz steckt einen Schwimmer aus Glas, der aussieht wie ein Fieberthermometer, in einen schmalen Zylinder mit Traubensaft. Je stärker der Schwimmer aufgetrieben wird, desto mehr Zucker im Saft, desto mehr Öchsle, desto vollmundiger später der Wein. „Er ist gar nicht so schlecht“, konstatiert Lehmitz. 85 Grad Öchsle zeigt die Mostwaage, in guten Jahren waren es schon mehr als 110.
Günter Vollmer probiert: „Ich finde, der erste Schluck war – rassig hätt' ich fast gesagt.“ Im übrigen halbtrocken. Der Reporter fühlt sich an Schlehen erinnert und eine Nachbarin an Laub. Sehr würzig jedenfalls. Der Saft wird die nächsten Wochen vor sich hin gären, wer will, darf kostenlos probieren – so lange, bis Essig geworden ist aus dem guten Tropfen. Aber bis dahin ist vielleicht schon nichts mehr übrig. Denn vom '98er Eimsbütteler Hinterhöfchen gibt es nur 25 Liter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen