: Alles freiwillig, versteht sich
Ruandas Regierung drängt die Hutu-Milizen zurück und plant erstmals Wahlen. Zugleich will sie mit „Solidaritätscamps“ die mißtrauische Bevölkerung umerziehen ■ Aus Cyangugu Peter Böhm
So offen sind wenige Menschen in Ruanda mit ihrer Meinung. „Sie mögen uns nicht“, erzählte dem Berichterstatter ein Kellner in einem Restaurant in der Hauptstadt Kigali. „Uns“, damit meinte er die Rückkehrer vom Sommer 1994 – Tutsi, die nach der sogenannten Hutu- Revolution 1959 oder einem Massaker oder einer Vertreibungswelle in die Nachbarländer geflohen waren und erst nach dem Zusammenbruch des Hutu-Regimes und dem Sieg der Tutsi-dominierten Guerilla Ruandische Patriotische Front (RPF) zurückkehrten. Aber woran kann man sie erkennen? „Man weiß es!“
Ruanda ist klein, jeder kennt jeden – zumindest in seiner Region. Und zudem kann man daran, was jemand in den letzten vier Jahren gemacht hat, abschätzen, wo er steht und was er denkt. Unmittelbar nach dem RPF-Sieg 1994 zurückgekehrt: Tutsi. Während des Völkermordes und danach im Land geblieben: Überlebender des Völkermordes, Tutsi oder moderater Hutu, wahrscheinlich Anhänger einer ehemaligen Oppositionspartei. Mit der Masse der Flüchtlinge im November 1996 aus dem Kongo zurückgekehrt: Hutu. Mit den Flüchtlingen bis in den Westen des Kongo gezogen und dann erst zurückgekehrt: Hutu, etwas radikaler.
Ruanda macht die scheinbar absurde Erfahrung, daß der Genozid vor viereinhalb Jahren bei der Mehrzahl der Menschen nicht zu einem Einsehen des Ergebnisses von Haß und Ressentiment und einem radikalen Umdenken geführt hat, sondern im Gegenteil, daß das, was man sich angetan hat, die Fronten verhärtet und ein friedliches Zusammenleben eher weiter in die Ferne gerückt hat. Das weiß natürlich die Regierung, die zudem auch nicht außerhalb dieser Kategorien steht. Der entscheidende Machtzirkel besteht aus dem RPF- Chef, Vizepräsidenten und Verteidigungsminister Paul Kagame an der Spitze und rund zwanzig Beratern, hohen Ministerialbeamten und Geschäftsleuten, die zumeist das lange Exil in Uganda und ihre Zeit dort in Musevenis Rebellenbewegung und ab 1986 in der ugandischen Armee eint.
Der Aufstand von Hutu-Milizen im Nordwesten Ruandas in den vergangenen anderthalb Jahren hat nicht nur die Spaltung der Gesellschaft verstärkt, sondern hat den Grundkonsens Nachkriegs- Ruandas wohl überhaupt in Frage gestellt. Zwar sind die Milizenhochburgen Gisenyi und Ruhengeri, zugleich vor 1994 Hochburgen des damaligen Präsidenten Juvenal Habyarimana, seit einigen Wochen wieder sicherer geworden, aber sie bleiben eine existentielle Bedrohung für die Regierung. Sie hat in den vergangenen Monaten durch zahlreiche Überläufer und durch Teile der Bevölkerung, die sich von den Milizen losgesagt haben, Einblicke in die Strukturen der Hutu-Milizbewegung Ruandische Befreiungsarmee (ALIR) gewonnen und diese genutzt, um einige ihre hochrangigen Führer zur Strecke zu bringen.
Aber es ist klar, daß diese schlecht ausgerüsteten Milizionäre nur mit Unterstützung der Bevölkerung, durch Nahrung und Unterkunft, eine solche Bedrohung werden konnten. Wie ein ausführlicher, im September veröffentlichter Bericht der Menschenrechtsorganisation African Rights zeigt, warnt die Bevölkerung die Milizen vor der Armee, beteiligt sich an Massakern und Plünderungen oder flieht mit ihnen gemeinsam.
Nun sind bis zum Jahresende erstmals Wahlen in Ruanda geplant – auf den zwei untersten Verwaltungsebenen, den sogenannten „zehn Häusern“ und den einzelnen Dörfern („secteurs“). Denen sollen im nächsten Jahr nationale Wahlen folgen, bei denen anders als bei den Lokalwahlen auch die politischen Parteien antreten können. Aber das heißt nicht, daß die Regierung die Zügel etwas lockerer lassen wird. Ziel dieser Wahlen ist es nach den Worten des RPF- Generalsekretärs Charles Mulinga, das autoritäre Verwaltungssystem aus der Habyarimana-Zeit zu demokratisieren. Ein Lokalbeamter soll von einem gewählten Rat mit zehn Mitgliedern ersetzt werden, die den Obersten aus ihrer Mitte wählen.
Sicher ist es richtig, daß die regionalen und lokalen Regierungsvertreter in Ruanda „kleine Könige“ waren und sind, wie Mulinga sagt. Aber allzuviel Interesse an einer Demokratisierung hat die Regierung auch nicht. Sie kann den bisherigen Beamten nur nicht trauen, wie sich im Nordwesten gezeigt hat, wo sich eine beträchtliche Anzahl offen zu den Milizen bekannt hat.
Um das zu ändern und sich eine politische Basis aufzubauen, hat die Regierung eine Aufklärungs- und Erziehungskampagne gestartet. In „Solidaritätscamps“ werden um die 1.000 Menschen aus verschiedenen sozialen und beruflichen Gruppen, Männer, Frauen, Jugendliche, zurückgekehrte Flüchtlinge, Funktionäre oder Bauern für vier Wochen zusammengerufen. 100.000 hätten bisher im ganzen Land an diesen Camps teilgenommen, sagt der Staatsekretär im Jugendministerium, Marc Kambandana, und das sei erst der Anfang. „Das ist ein kontinuierliches Programm. Wir werden wiederholen, wiederholen, und eventuell wird es sich dann in eine andere Form weiterentwickeln.“
Knapp 600 Jugendliche, Schüler, Studenten und Jugendbeauftragte der Dörfer („secteurs“), haben sich in Cyangugu, der südwestlichsten Präfektur des Landes, nahe dem Ort Kamembe in einem ehemaligen Durchgangslager für Tutsi-Flüchtlinge aus dem Kongo zu den Camp-Lehrgängen versammelt. Regierungsunabhängige Organisationen haben das Lager aus mit Plastikplanen überdachten Gestellen der Regierung zu diesem Zweck für vier Wochen überlassen. „Die alte Regierung hat die Jugendlichen für alles Böse benutzt, um zu töten und zu zerstören“, sagt der Beauftrage des Jugendministeriums für das Camp, Godefroid Muyango. „Man kann nicht mit einer solchen Jugend weitermachen. Sie muß positive Werte lernen: Daß nicht der Tutsi und der Hutu der Feind sind, sondern die Armut.“
Die Jugendlichen treiben morgens gemeinsam Sport und leisten gemeinnützige Arbeit wie Häuserbau. Am Nachmittag hören sie drei Stunden lang das Referat eines Politkers oder eines Fachmannes für Landwirtschaft oder Naturwissenschaft und diskutieren anschließend darüber. Am Abend folgt wieder eine Stunde Sport und „musikalische Folklore“, zu der alle im Kreise stehen und gemeinsam singen.
Alles freiwillig natürlich, versteht sich. Militär ist im Camp nicht zu sehen. Es ist den Teilnehmern auch möglich, beispielsweise am Wochenende das Lager zu verlassen. Journalisten dürfen die Solidaritätscamps allerdings nicht ohne einen Regierungsvertreter besuchen, und das erste Interview mit einem Jugendlichen, den einer der zwölf Ausbilder ausgesucht hat, geht aus Regierungssicht gleich voll in die Hose. Hartnäckig spricht der 25jährige Faustin (Name geändert) von einem „Bildungs-“ und nicht von einem „Solidaritätscamp“ und erklärt: „Ich bin hierhergekommen, um mein Zeugnis zu bekommen, das ich brauche, um meine zwei letzten Schuljahre zu machen.“
Wie sich später herausstellt, brauchen zurückgekehrte Flüchtlinge dieses Zeugnis tatsächlich, um ihre Ausbildung fortsetzen zu können. Die meisten Jugendlichen verbergen nicht, daß das der Hauptgrund für ihr Hiersein ist. Faustin zog 1997 mit seiner Familie bis nach Mbandaka, im Westen des Kongo, einer der Orte, wo Laurent Kabilas Truppen, in der Mehrzahl wohl ruandische Soldaten und von ihr ausgebildete Banyamulenge- Kämpfer, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Massaker an ruandischen Hutu-Flüchtlingen begangen haben. Über den Verbleib einer seiner Schwestern und zweier Brüder hat Faustin keine Nachricht.
Auf die Frage nach der Atmosphäre im Camp antwortet Faustin: „Eigentlich sehr freundschaftlich, nur manchmal...“ Er stockt. Einer der Aufseher ist an die Tür gekommen, um das Gespräch mitzuhören, und will sich zunächst nicht vertreiben lassen. Er geht dann doch hinaus, und Faustin fährt vor: „Einmal haben uns Überlebende des Völkermordes bedrängt: Warum habt ihr das gemacht?“ Nun kommt Muyango, offensichtlich von dem Aufseher alarmiert, und bricht das Interview ab. „Einzelgespräche passen nicht zu unserer Ideologie hier“, erklärt er. „Wir wollen Transparenz.“
In den Gruppengesprächen – mit Aufseher – zeigen die Jugendlichen dann, was sie gelernt haben, wenn auch nicht immer erst in diesem Camp. Die Floskeln über Versöhnung und Einigkeit inklusive Blinzeln in Richtung Aufseher, ob er noch da ist, gehen ihnen glatt von den Lippen.
Wenn auch nicht bei allen. Marie Epafrasi (21) ist eine junge Bäuerin und Jugendbeauftragte ihrer Gemeinde. Sie kehrte im Oktober 1996 aus einem Flüchtlingslager südlich von Bukavu direkt hinter der Grenze im Kongo zurück. Sie sagt, sie habe ihre Meinung geändert. Über was? „Über die Geschichte Ruandas“. Welchen Teil? „Nun ja“. Die Übersetzerin besteht auf einer Antwort. „Über den Völkermord.“
Die Flüchtlingslager im Osten Kongos waren fest in der Hand der Hutu-Extremisten und ihrer Propaganda, und viele der Menschen dort kannten auch nach der Rückkehr nach Ruanda kaum eine andere Meinung. Marie sagt, daß sie nach dem Camp in ihre Gemeinde gehen und weitergeben wird, was sie gehört hat. „Wir haben Beweise, daß es funktioniert“, meint deshalb Muyango. „Jugendliche haben nach den Camps Völkermörder und Hutu-Milizionäre, die sich in Dörfern eingenistet haben, denunziert.“
Wenn auch der aufklärerische Aspekt dieser Camps unübersehbar ist – andere Aspekte sind es nicht minder. Spricht Muyango mit den Jugendlichen, dann stehen diese fast stramm und antworten mit einem militärischen „Jawohl“. Bei der Abschlußveranstaltung des Camps werden alle kulturellen Darbietungen in Richtung der Tribüne der Honoratioren vorgeführt – ein merkwürdiges Bild angesichts einer Menge von fast 600 Jugendlichen. Alle Lieder und kleinen Theaterstücke handeln von der Versöhnung, der Einigkeit und der Solidarität der Bevölkerungsgruppen in Ruanda, weshalb der Übersetzer nach einer halben Stunde auf die Frage „Was singen sie jetzt?“ nur noch „dasselbe“ antwortet. Es wirkt alles auswendig gelernt und mit dem offensichtlichen Ziel vorgetragen, das auszudrücken, was die angereisten Politiker – der Unterpräfekt, der Polizeichef der Präfektur, der Staatssekretär des Jugendministeriums – hören wollen.
Die Worte in den Camps mögen schön klingen, aber Taten sagen oft mehr als Worte, und vor allem sind sie nachprüfbar. Einer der zwölf Ausbilder, der gleichzeitig Jugendbeauftragter ist, berichtet, daß fünf junge Männer aus seinem Kreis aus dem Lager abgeholt wurden. „Mir wurde gesagt, daß sie eine militärische Ausbildung bekommen.“ Das paßt zu Gerüchten über Zwangsrekrutierungen, von denen man sich in Cyangugu und Kigali auf der Straße erzählt. Der Ausbilder ist ratlos und fühlt sich „hinters Licht geführt“, wie er sagt: „Was soll ich denn jetzt ihren Eltern sagen!“
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