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Das Gespenst der Elektrizität

Bob Dylan live in Manchester am 17. Mai 1966 – erst jetzt, 32 Jahre später, offiziell veröffentlicht. Ein Publikum rebelliert gegen seinen Sänger: Drei Lesarten  ■ Von Jean-Martin Büttner

Das Konzert ließe sich von seinem Ende her erzählen. Der Sänger und seine Band haben „Ballad of a Thin Man“ abgefertigt, die Geschichte von Mister Jones, der so belesen ist, so korrekt und solidarisch und trotzdem nicht begreift, was um ihn herum passiert: „There's something happening here, but you don't know what it is.“

Der Sänger steht vom Klavier auf und zieht wieder die elektrische Gitarre an. Da löst sich aus der Menge, die immer unruhiger geworden ist, seit der Dichter nicht mehr alleine auf der Bühne raspelt, sondern mit einer Rock'n'Roll- Band zum Tanz aufspielt „und sich bewegt und aufführt wie Mick Jagger“, wie ein Augenzeuge entrüstet anmerkt, wo er doch als bitterzarter Protestsänger angefangen hatte, da löst sich plötzlich dieser abendländische Schrei aus dem Dunklen, unüberhörbar, kurz, wutentbrannt: „Judas!“

Viele klatschen, einige protestieren; niemand scheint die antisemitische Implikation zu realisieren. Der Sänger wartet, dann geht er zum Mikrophon. „I don't believe you“, sagt er, „you're a liar“. Dreht sich zu den Musikern um: „Play fucking loud.“ Zu sechst attackieren sie „Like a Rolling Stone“, dieses „große Stück Kotze“, wie er es einmal genannt hat, die Gruppe spielt es laut, aber aufreizend langsam, vier lange Strophen in acht Minuten. Und der Sänger, wie sein erster Biograph einmal geschrieben hat, heult wie ein Kojote im Stacheldraht. Das Stück verklingt, die Band tritt ab, das Licht geht an, die Leute sitzen wie betäubt auf ihren Stühlen, die einen wütend, die anderen verwirrt. Sie wollten Worte gegen den Krieg; er führte ihnen den Krieg gleich selber vor.

It used to be like that... Bob Dylans Tournee mit den Hawks dauert von 1965 bis 66, er gibt in zehn Monaten 76 Konzerte auf drei Kontinenten, editiert einen Film, schreibt, probt und nimmt ein Doppelalbum auf. Jeden Abend wird der Sänger gefeiert, wenn er alleine auf die Bühne kommt, und jeden Abend beschimpft, wenn er sie mit seiner Band verläßt. Selbst in Amerika und in liberalen Städten wie Berkeley oder New York will die Gemeinde ihren Rebellen als Pfadfinder mit Wandergitarre, ein singender Redenschreiber für die Revolution.

Man könnte dieses Konzert auch vom Anfang her erzählen. Dylan eine Dreiviertelstunde lang allein mit Gitarre, Harmonika und feurigem Haarbusch, ein schmaler junger Mann im Scheinwerferlicht, charmant und unnahbar. „Nobody feels any pain“, singt er im totenstillen, vollbesetzten Saal der Free Trade Hall von Manchester. Es ist der siebzigste Auftritt der Tournee. Dylan ist am Anschlag, nur das Amphetamin hält ihn noch wach. Dennoch, er singt die langen, brillant verschlungenen Strophen von „Desolation Row“ und „Mister Tambourine Man“ mit allen Nuancen. Schläfrige Stimme, hellwache Phrasierungen.

Dazwischen wird neues Material ausprobiert, Stücke von „Blonde on Blonde“, das Dylan während der Tournee eingespielt hat und das in England noch keiner kennt, vor allem das unerhörte „Visions of Johanna“, eine Halluzination über zerfließende Identitäten. Die Gitarre schlägt ihre zeitlupenen Akkorde, die Mundharmonika atmet schwer, sonst hört man nur die Stimme im dunklen Saal, Dylan deutet diese Stille in der ersten Zeile und besingt in der zweiten das Ende dessen, das noch gar nicht angefangen hat: „We sit here stranded, though we do our best to deny it.“

„Visions of Johanna“ schildert die Illuminationen eines Erzählers, der zugleich von der Unmöglichkeit berichtet, seine Visionen in Worte zu fassen: „How can I explain? It's so hard to get on.“ Die Vokabeln klingen gedehnt, die Konsonanten scharf, man hört beides, die Visionen und die Schwierigkeit, sie zu artikulieren. „Visions of Johanna“ ist ein Stück über den Rand der Sprache und das Flackern der Gedanken in der Nacht, über das Unwirkliche und das Hyperreale, über die Flutung des Bewußtseins mit Bildern, Tönen und Gefühlen. Die Gesellschaft bricht auseinander, das Ich löst sich auf; Dylan deutet das erste im zweiten.

...and now it goes like this. „The ghost of electricity howls in the bones of her face“, heißt es an einer Stelle. Ein Gespenst geht um in Manchester, das Gespenst der Elektrizität. Ein elektrischer Barde setzt seine Lieder unter Strom. Der Gesang am Lagerfeuer wird vieldeutiges, medial verschaltetes Schreien, das Bürgerrechtslied wird in sexuell geladenen, kriegerisch lauten Rock 'n' Roll überführt. „It used to be like this“, sagt Dylan einmal, „and now it goes like that.“

C. P. Lee, heute Professor für Cultural Studies an der Salford- Universität von Manchester, erlebte das Konzert in der Free Trade Hall als 16jähriger. Über dreißig Jahre später beschreibt er auf 200 Seiten die Nacht, von der Greil Marcus einmal pathetisch schrieb, in ihr sei die Popmusik auseinandergebrochen. Lee analysiert den Bruch als Konflikt zwischen Kunst und Dogma. Er erzählt von den Intellektuellen, die Dylan für ein Megaphon ihrer Forderungen hielten, von den britischen Marxisten, die in ihren Zirkeln Regeln für die korrekte Aufführung von Protestmusik erstellten.

Wo Dylan seine Befreiung feierte, hörten sie den Ausverkauf. Die Hinwendung zum Rock 'n' Roll erschien ihnen als Verrat, ihm bedeutete sie das genaue Gegenteil, nämlich Treue zur schwarzen Musik, die er nachts in Minnesota am Radio gehört hatte. Sein größter Wunsch, schrieb er einmal zu Beginn seiner Karriere, sei ein Posten in der Begleitband von Little Richard. Als ihn Journalisten fragten, ob er ein Dichter sei, gab er sich als „song and dance man“ aus, er klang wegwerfend, aber es war ihm ernst: Protest durch Bewegung.

Auch so kann man von diesem Konzert erzählen: Wie Dylan nach 45 Minuten Einsamkeit mit seiner Band zurückkehrt und in damals unerhörter Lautstärke die Musik aufführt, die er seit Jahren in seinem Schädel hört, „diesen dünnen wilden Quecksilbersound“, wie er sich damals ausdrückte; selten ist er diesem Sound näher gekommen als hier. Baß und Schlagzeug rumpeln, Organist Garth Hudson läßt seine irren Zirkusmelodien kreisen, Robbie Robertson bringt die Soulgitarre zum Heulen. Sprache wird in Bewegung, Denken in Empfinden überführt. Erwartungen werden enttäuscht, da beim Wort genommen: Something is happening here.

Natürlich klang das, was dem Publikum von Manchester wie Heavy Metal vorkommen mußte, schon damals harmlos im Vergleich zu dem, was Gruppen wie die Who in den Londoner Clubs entfesselten. Nur spielten die Who damals für ein anderes Publikum, nämlich für jene Proletarier, in deren Namen die Linken von Manchester politisierten. Was diese Dylan vorwarfen, war im Grunde nichts anderes als die Musik gewordene Erfüllung ihrer eigenen Forderungen.

Und was sie an seiner Sorte Volksmusik nicht ertrugen, war vielleicht nicht einmal die Fender- Gitarre oder der Krach der Begleitkapelle. Sondern die Begeisterung in seiner Stimme, seine Aufregung, sein höhnischer Triumph darüber, dem Zwang ihrer Definitionen entkommen zu sein. Je heftiger sie ihn ablehnten, desto mehr sah er sich bestätigt; ihr Haß war seine Inspiration. Das ist bis heute so geblieben. Er singt immer noch. Es passiert noch immer was.

Bob Dylan: „Live 1966, the Bootleg Series Volume 4“ (Sony Columbia); C. P. Lee: „Like the Night. Bob Dylan and the Road to the Manchester Free Trade Hall“, London (Helter Skelter) 1998.

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