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Aus Angst vor Obdachlosigkeit in den Tod

In Rumänien zündet sich eine Frau vor dem örtlichen Bürgermeisteramt selbst an – vor ihrem Ehemann, laufenden Fernsehkameras und vielen Zuschauern. Nun ermittelt die Polizei wegen unterlassener Hilfeleistung  ■ Von Keno Verseck

Bukarest (taz) – Der Fernsehsprecher warnt: „Wir weisen darauf hin, daß Sie schockierende Bilder sehen werden.“ Film ab: Eine Frau übergießt sich mit Benzin. Ihre Augen sind tränenverquollen und blicken irre umher. Sie versucht, mit dem Feuerzeug ihren Jackenärmel anzuzünden. Doch der fängt kein Feuer. Ein Mann tritt aus der Menschenmenge hervor und will ihr das Feuerzeug entreißen. Der Ehemann der Frau hindert ihn daran.

Einige Minuten vergehen. Ein zweiter Versuch. Diesmal fängt die Jacke Feuer. Nur ein paar Sekunden, und die Frau steht in Flammen. Mehr als hundert Menschen schauen zu. Niemand rührt sich. Feuerwehr, Polizei oder Rettungswagen sind nicht anwesend. Wachbeamte schauen zu. Neugierig blicken Angestellten aus den Fenstern des Bürgermeisteramtes. Die Frau stürzt schreiend auf die Menge zu. Erst da reißen sich einige Männer die Kleider vom Leib und löschen das Feuer. Dann rast ein Taxi mit der Frau ins Krankenhaus. Schnitt und Filmende.

Die Szene spielte sich vergangenen Donnerstag vor dem Bürgermeisteramt der südrumänischen Stadt Pitesti ab. Das Kamerateam eines lokalen Fernsehsenders nahm das grausame Spektakel von Anfang bis Ende auf. Der Film lief in den letzten Tagen mehrfach auf allen überregionalen Fernsehkanälen. Rumänische Zeitungen veröffentlichten ganze Fotosequenzen der Selbstverbrennung. Die Bilder schockierten die Öffentlichkeit. „Hätte jemand eingegriffen, dann hätten wir zwar keine solchen Aufnahmen gehabt, aber die Frau wäre gerettet worden“, kommentierte ein Medienkritiker entsetzt die Aufnahmen.

Ileana Voican, 30, zündete sich vor dem Bürgermeisteramt in Pitesti an, weil sie fürchtete, obdachlos zu werden. Mit ihrem Mann und ihrem Kind hatte sie den Sommer über auf der Dachterasse eines Neubaublocks gewohnt, später in einem Wohnheim für alleinstehende Arbeiter. Kurz bevor sie sich verbrannte, hatte sie versucht, im Bürgermeisteramt die Kündigung ihrer Unterkunft im Arbeiterwohnheim rückgängig zu machen. Dort hatten Angestellte über ihre Drohung, sich zu verbrennen, nur gespottet. Doch Ileana Voican meinte es ernst. Daß niemand eingriff, als sie sich anzündete, wird sie vermutlich das Leben kosten: Ärzte geben ihr wenig Überlebenschancen.

Verantwortlich für das Schicksal von Ileana Voican fühlt sich bis heute niemand von denen, die von der angekündigten Selbstverbrennung wußten – nicht ihr Ehemann, nicht der Bürgermeister und die Stadtratsangestellten, nicht die Journalisten und die Zuschauer des Schauspiels. Die politische Beraterin des rumänischen Staatspräsidenten Emil Constantinescu, Zoe Petre, veranlaßte dies am vergangenen Wochenende zu einem schweren Vorwurf an die Adresse ihrer Landsleute: „Diese Szenen sind der brutalste Ausdruck der Wirtschaftskrise in Rumänien. Die rumänische Gesellschaft leidet an völliger Gleichgültigkeit.“

Es ist nicht der erste derartige Fall in Rumänien. Im April letzten Jahres lud der Bukarester Rettungsdienst einen TBC-kranken Rentner einfach auf der Straße ab, nachdem mehrere Krankenhäuser seine Einweisung abgelehnt hatten. Von niemandem beachtet, starb der Mann wenig später.

Auch Selbstverbrennungen aus Protest gegen die Behörden gehören in Rumänien fast schon zum Alltag. So sehr, daß Medien zuweilen nur noch zynisch auf sie reagieren: Nachdem im Oktober vergangenen Jahres ein Hungerstreikender eine Selbstverbrennung vor dem rumänischen Parlament überlebt hatte, titelte die größte Tageszeitung des Landes Adevarul (Die Wahrheit): „Ein Mann hat sich ein wenig angezündet“.

Im aktuellen Fall Ileana Voicans sollen Ignoranz und Zynismus nun Folgen haben: Die Polizei hat bereits Ermittlungen gegen den Ehemann der Frau und mehrere weitere Personen wegen Beihilfe zum Selbstmord und unterlassener Hilfeleistung aufgenommen. Auch die bei der Selbstverbrennung anwesenden Journalisten müssen mit Konsequenzen rechnen. Der rumänische „Zentrale Medienaufsichtsrat“ (CNA) debattiert auf seiner heutigen Sitzung darüber, ob dem Lokalfernsehen Pitesti die Sendelizenz entzogen wird.

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