Kommentar: Koalition der Machbarkeit
■ Die Ära Kohl saß mit am rot-grünen Verhandlungstisch
Schneller als erwartet, harmonischer als gedacht, sachzwanggeprägter als von anderen erhofft – die rot-grüne Koalition hat in beeindruckendem Tempo die erste Hausaufgabe erledigt. Unregierbarkeit, Chaos und Streit – vor allem die Grünen haben mit ungeahnter Disziplin die Horrorszenarien der Vergangenheit Lügen gestraft. Dennoch sind die Koalitionsvereinbarungen ein klassisches Produkt dieser Vergangenheit. Sechzehn Jahre Kohl haben ein Klima ängstlichen Argwohns hinterlassen. Phantasie, Veränderung, Experiment sind Worte geworden, die Unbehagen auslösen. Pragmatismus, Effizienz, Professionalität klingen weitaus beruhigender und zeitgemäßer. Wahrscheinlich wollten die WählerInnen wirklich nicht mehr als eine zeitgemäße Regierung. Nur, allein mit solider Genügsamkeit läßt sich keine Lust auf das neue Jahrtausend und seine Veränderungen wecken.
Die Vergangenheitsorientierung, die Gerhard Schröder im Wahlkampf Helmut Kohl genüßlich vorwerfen konnte, hat die neue Regierung nun selbst eingeholt. Die wirklichen Errungenschaften in ihrem Regierungsprogramm, der Ausstieg aus der Atomenergie und die Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts, sind überfällige Korrekturen. Aber das Abräumen von Erblasten ist kein Zukunftsprogramm.
Das Schreckgespenst Rot-Grün, das kann die Ära Kohl als Erfolg verbuchen, hat sich so in den Köpfen eingenistet, daß es die KoalitionsmacherInnen offenbar vor sich selber gruselt. Niemanden vergraulen, hier leise „Buh“ rufen, dort kleine Wohltaten verteilen, nicht wirklich weh tun, aber auch wenig Hoffnung wecken – vor lauter Anstrengung, dem vermeintlichen Schreckgespenst ja nicht ähnlich zu werden, hat man sich auf das sichere Terrain der Machbarkeit geflüchtet.
Dem leichtgewichtigen grünen Koalitionspartner ist das am wenigsten anzulasten. Für das rot-grüne Projekt jedoch könnte gerade der Verzicht auf Experimente zum Fallstrick werden. Wenn Kohls Wahl-ABM-Stellen auslaufen, die Arbeitslosigkeit wieder steigt, die Rentenkassen weiter leerlaufen, das Ökosteuerchen nicht die nötigen Einnahmen bringt, die Finanzkrisen nach Europa schwappen, die Städte im Verkehr ersticken – dann werden die WählerInnen vielleicht schmerzlich merken, daß diese Regierung ihnen weit radikalere Veränderungen hätte zumuten müssen, als sie selbst gewollt haben. Vera Gaserow
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen