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Fortschritte der Raumgestaltung Von Walter Filz

Haben Sie grad Zeit für ein kleines Experiment? Dann machen Sie doch mal folgendes: Setzen Sie sich hin – am besten auf den Boden – und sagen Sie dreimal hintereinander das Wort „Nadelfilz“: Nadelfilz. Nadelfilz. Nadelfilz.

Spüren Sie's? Merken Sie, wie der bloße Klang des Wortes ein unangenehmes Kratzgefühl verursacht, so ein Kratz-, Piek- und Scheuergefühl wie von Jugendherbergsdecken, nicht weichgespülten Frotteetüchern und anderen disziplinarischen Textilien? Das genau ist Nadelfilz. Das Rupfenhemd unter den Teppichen. Der Hungerstreik unter den Bodenbelägen. Ein abgehärmtes Fast-Nichts, unter dem nur noch der blanke Beton kommt. Nadelfilz ist im deutschen Kulturraum das, was andernorts das Nagelbrett ist: die Grundlage eines asketischen Lebenswandels.

Dementsprechend findet sich Nadelfilz gern in protestantischen Zusammenhängen. In Gemeindebibliotheken, Pfarrershaushalten und unter den Pritschen von evangelischen Wochenendakademiegästezimmern. Überall dort, wo Wohnlichkeit nicht mehr bedeutet als Wärmedämmung und die meiste Wärmedämmung durch das Tragen dicker Socken und hölzerner Sohlen erreicht wird, überall dort, wo Luxus verachtet wird, wo Flauschigkeit als verweichelnde Bequemlichkeit gilt und Darben mit Denken verwechselt wird, überall dort liegt Nadelfilz. Und dort, wo viel Schmutz ist, sowieso. In Ämtern und Behörden und Büros, in Verwaltungen, Service- Centern und Mitnahmemöbelmärkten: Überall dort, wo man ohne Marmor und Granit versucht, ein gewisses Maß an Kundenrepräsentationsbedürfnis mit dem Umstand zu vereinen, daß die Leute dauernd mit dreckigen Schuhen reinlatschen, da liegt er auch, denn Nadelfilz ist fast schon Teppich, aber noch zu reinigen. Und wenn nicht, ist auch egal.

Denn Nadelfilz hat keine eigentliche Farbe bzw. nur eine, der man's nicht ansieht, ob jemand gerade Rotwein, Ungarisch-Gulasch oder die Folgen von deren Überverzehr draufgemacht hat. Nadelfilz sieht immer so aus: kanalgrau, blutwurstrot, waldsterbensbraun oder erbrochen grün.

Ich weiß nicht genau, wann Nadelfilz großflächig in der Bundesrepublik ausgelegt wurde, aber ich meine, es muß in den sechziger Jahren gewesen sein. Als der filigrane, fröhlich-aerodynamische Schwung der Fünfziger vorbei war und in den Wohnungen die zierleistenlose gerade Linie aufkam, die skandinavischen Sessel und schmalbrettrigen Hängeregale und all die andern Möbel, die ihre freudlose Kargheit als zeitgemäß, praktisch, modern ausgaben. In dieser Zeit, meine ich, muß auch der Nadelfilz aufgekommen sein. Und sich breitgemacht haben. In Herbergen und Hotels, in Wartezimmern, Finanzämtern und der Auftragsannahme der Autowerkstatt, in Treppenhäusern und Partykellern und in den Dielen und Eßzimmern vielkindriger Familien – bis sie alle mit einem Mal genug hatten von der kurzgeschorenen Bodendisziplin und ein anderer, gemütlicher Bodenbelag aufkam. Das war Anfang der Siebziger. Und der neue Bodenbelag war wie eine Erlösung. Allein schon der Klang des Wortes.

Probieren Sie's aus. Setzen Sie sich, am besten wieder auf den Boden, und sagen Sie: Flokati. – Flokati. – Flokati.

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