: Aus der Investfirma auf den Kartoffelacker
Die Wirtschaftskrise in Rußland trifft besonders die jungen Mittelschichten. Viele Geschäfte brechen zusammen. Dabei könnte gerade die neue Bourgeoisie demokratische Strukturen entwickeln helfen ■ Aus Moskau Karsten Grawert
Wie zum Trotz lärmen die Lautsprecher der menschenleeren Straßencafés. Das Gelände der ehemaligen Volkswirtschaftsausstellung der Sowjetunion, ein sozrealistisches Disneyland aus Palästen, Springbrunnnen und Proletarierstatuen, wirkt wie ausgestorben. Anstelle der Errungenschaften heimischer Arbeiter und Bauern beherbergen die Bauten heute kapitalistische Kleinparzellen aus importierter Haushaltsware und Designermode. Hinter den Tresen langweilen sich kaugummikauende Verkäuferinnen, wie in Sowjettagen. Nur mangelt es heute nicht an Waren, sondern an Geld. Kaum ein Kunde kann die täglich neu ausgepreisten Güter erwerben.
Im ehemaligen Pavillon zum Ruhme der sozialistischen Forstwirtschaft haben sich Wadim und Gulja ihr Möbelgeschäft eingerichtet. Einsam sitzen sie in ihrer italienischen Ausstellungsküche: „Seit über einem Monat haben wir hier nicht mal einen Stuhl verkauft, unser Geschäft ist völlig zusammengebrochen“, erzählt Wadim. „Selbst wenn jemand kaufbereit ist – sobald wir um die übliche Anzahlung bitten, läuft er weg.“ Die langen Lieferzeiten machen in dieser unsicheren Zeit jedes Geschäft unmöglich. Mittlerweile können die beiden Jungunternehmer nicht einmal mehr ihre Telefonrechnung bezahlen. „Von 25 Angestellten haben wir 19 entlassen“, berichtet Gulja. „Wenn die Krise andauert, sitzen auch wir auf der Straße.“
Da wären sie nicht die einzigen. Die Wirtschaftskrise verursacht in Moskau eine bisher ungekannt hohe Arbeitslosigkeit. Offiziell rechnet man zum Jahresende mit einem Zuwachs von 70 Prozent auf 250.000 Arbeitslose. Der Finanzcrash traf vornehmlich die jungen Professionellen der gerade entstandenen Mittelschicht.
Allein 150.000 Moskauer Bankangestellte werden nach Expertenschätzungen in den nächsten Wochen ihre Jobs verlieren. Der Finanz- und Investitionssektor kürzt zwischen 50 und 90 Prozent der Belegschaften. Viele Angestellte von Reisebüros, Werbeagenturen und Handelsfirmen arbeiten seit Beginn der Krise ohne Gehalt.
Der Crash der russischen Banken hat vor allem den unternehmenden Mittelstand seines Vermögens beraubt. Die Masse der Russen besitzt keine Konten, und die Superreichen bunkern ihre Pfründen im sicheren Ausland.
„Erst habe ich mein Aktienvermögen verloren, dann wurde ich Anfang September rausgeworfen“, erzählt Nikita, Broker bei einer Investmentfirma. Noch vor kurzem hatte das Unternehmen 16 Millionen Dollar im Jahr erwirtschaftet. „Von 130 Leuten arbeiten dort noch 14.“ Ungläubig sieht sich Nikita plötzlich existentiellen Fragen gegenüber: „Ich hätte nie gedacht, daß ich noch mal Kartoffelvorräte für den Winter horten müßte.“ Zur Zeit versucht er sich in seinem alten Job als Wirtschaftsjournalist über Wasser zu halten. Doch auch diese Branche wird mit der Mittelschicht untergehen.
Die gesellschaftlichen Folgen dieses Untergangs werden verheerend sein. „In unserem Land leben 80 Prozent der Bevölkerung am Rand des Existenzminimums“, berichtet Jelena Galinkowa, Vizerektorin des Soziologischen Instituts der Akademie der Wissenschaften. „Dem steht eine privilegierte Kaste von Superreichen gegenüber, die nicht einmal ein Prozent ausmacht. Dazwischen bildete sich eine Schicht von Unternehmern und Managern, bei der ein Teil der Intelligenzija Arbeit fand. Jetzt, da diese vermittelnde Klasse wegzufallen droht, ist die soziale Explosion programmiert.“ Nach Galinkowas Meinung ist die ökonomische Mittelschicht der einzige Motor, der die Entwicklung demokratischer Strukturen vorantreiben kann. Die Intelligenz hat sich aus der Politik verabschiedet. Die neue Bourgeoisie sei zwar nicht bewußt politisch, wirke aber durch ihr Interesse an klaren Gesetzen, gerechten Steuern und sozialer Absicherung demokratisierend.
„Wenn die Kommunisten an die Macht kommen, ist das schlecht,“ sagt Gulja. „Aber wenigstens stoppen die die irrsinnige Preissteigerung bei den Lebensmitteln.“ An dieser Stelle nickt auch die Pavillonverwalterin, die gerade den Mietzins eintreiben will. „Notfalls muß ich wieder als Lehrerin arbeiten, für 750 Rubel. Nach heutigem Kurs sind das weniger als 100 Mark“, rechnet Gulja vor. Wadim muß grinsen. „Bei uns hatte man immer eine irrationale Einstellung zum Geld. Mal ist es da, dann wieder weg. Wer weiß – mit etwas Glück kommt es vielleicht auch wieder.“
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