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Über ungesehene Bilder

Eigentlich wollte das ZDF Mittwoch nacht in einer Sendung über Rechtsmedizin die Obduktion eines Toten zeigen. Doch weil die „Bild“-Zeitung dessen Identität preisgab, verzichtete der Sender auf die Leichenöffnung  ■ Von Klaudia Brunst

Das ist die Logik des Medienzeitalters: Die Nachricht, das ZDF zeige die Obduktion einer echten Leiche, ist natürlich Bild-trächtig. Also fragt Bild nach: Wer war der Tote? Tatsächlich kann das Blatt am Tag der Ausstrahlung mit Namen, Alter und Foto des Verstorbenen aufwarten. Eine Nachricht ist geboren. Das ZDF zieht daraufhin seine zurück. Die Bilder der Leichenöffnung wird es nicht geben. Man habe damit den Wunsch der Angehörigen respektiert, denen Bild den Schutz der Anonymität genommen hatte.

„Die ursprünglich zwei Stunden zwanzig Minuten lange Sendung verkürzt sich dadurch um vier Minuten“, erklärt die Ansagerin spitz. Am nächsten Tag sprechen die Quoten: 540.000 Menschen sahen die „Extra-Nacht“ des Gesundheitsmagazins „Praxis“ über das Thema Rechtsmedizin. Eine stattliche Zahl für Mittwoch nachts.

Die vier Minuten haben mir gefehlt. Nicht aus Sensationsgier oder der professionellen Lust am Tabubruch (über dessen Medialisierung sich taz-Autor Georg Seeßlen vorgestern an dieser Stelle Gedanken machte). Nein, das ZDF hat mit seinem Special in mir ein Interesse geweckt. Nicht das der Bild („Wer ist das?“), sondern ein wissenschaftliches: „Wie geht das?“ Das bleibt nun in einem Punkt weiterhin vage.

Dafür habe ich vieles andere gesehen, gehört, gelernt: Zum Beispiel sah ich ein „echtes“ Lungenpräparat, das mit Rußpartikeln verunreinigt war. Der ursprüngliche Besitzer des Organs muß in den Flammen eines Brandes gestorben sein. Wäre er zum Zeitpunkt des Feuers schon tot gewesen, hätte er nicht mehr geatmet, wäre der Ruß nicht eingedrungen. Dann hätte wohl jemand eine Leiche verschwinden lassen wollen. Das ist die Logik der Rechtsmedizin. Ich habe gelernt, daß jeder Tote (wie beruhigend!) vor der Einäscherung noch einmal beschaut wird und sich im Rückenmark Gehirnbotenstoffe befinden, die auch post mortem über den Gemütszustand Auskunft geben können. Und gerade weil z. B. Todeszeitpunktsbestimmung dramaturgischer Standard jedes Krimis sind, ist es spannend, den Fachleuten dabei zuzusehen, wie sie unter Fingernägeln Tweedjackenspuren hervorkratzen.

Zwei „gefühlsechte“ Tatorte hat das ZDF mit Hilfe von Kripo, THW und Schutzpolizei nachstellen lassen. So läßt sich die Sisyphusarbeit der vielen Ermittler anschaulich vermitteln. Bei jeder Szene aufs neue betonte die Reporterin, daß der Schauplatz nachgestellt, die TV-Leiche eine lebende Schauspielerin ist. Die Experten aber waren echt. Und es tat der Materie gut, daß diese Profis durch Protokolle und Gutachteraussagen geübt sind, über ihre Arbeit emotionslos und doch anschaulich zu sprechen. „Extrem lange Leichenliegezeit“ ist doch zum Beispiel ein beruhigend distanzierender Begriff für einen stinkenden, insektenzerfressenen Körper. Und für die Kargheit der Bemerkung, Fischfraß oder auch Schiffsschrauben erschwerten häufig die Identifizierung von im Wasser gefundenen Leichenteilen, war ich durchaus dankbar. Ein Masochist, wer mitten in der Nacht noch einen Schritt weiterdenkt ... Systematisch führte uns die „Praxis- Nacht“ durch die Phasen rechtsmedizinischer Ermittlungen – von der Spurensicherung über die Todeszeitbestimmung zur Obduktion, schließlich in die forensische Psychiatrie, die über Schuldfähigkeit von Tätern befindet.

Alle Gebiete gewannen Gestalt durch auskunftsfreudige Experten, eindrückliche Präparate und ein, zwei diskrete Einblicke in die Laborpraxis. Nur das Feld der Obduktionen lernten wir ausschließlich am Beispiel der Digitalanimation. Schade.

Das Vorhaben war nicht zu skandalisieren und wurde nicht skandalisiert. Mit mehr journalistischer Sorgfalt und Seriösität kann man sich dem Thema nicht nähern. Bleibt zu erwähnen, daß auch Bild über das ZDF ausgesprochen seriös und interessegeleitet berichtet hatte. Trotzdem haben sie jetzt ihren Skandal.

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