: Vorschriften beachten! Von Carola Rönneburg
Eine der ersten Vorschriften, die es hierzulande zu erlernen gilt, lautet: Man geht nicht bei Rot über die Straße. Aus Sicherheitsgründen, sagen die Vorschriftenmacher, und sie wiederholen diese Anweisung so oft, bis man sie verinnerlicht hat und niemals vergessen wird. Deshalb warten erwachsene Menschen sogar nachts, an meilenweit autofreien Straßen, auf das Fußgängerampelgrün: Wo eine Ampel ist, gilt auch die Vorschrift. Man geht einfach nicht bei Rot über die Straße.
Natürlich gibt es auch Vorschriften ohne Ampeln. In der Berliner Volksbühne zum Beispiel darf man zwar während der Vorstellung den Zuschauerraum verlassen, danach aber nicht mehr durch dieselbe Tür zurück. Auch nicht, wenn man einen Platz ganz in der Nähe dieser Tür hat. Das ist Vorschrift, und damit die eingehalten wird, beschäftigt das Theater einen Vorschreiber. Man kann sich gut vorstellen, wie die Volksbühne einst ihren Vorschreiber über eine Stellenanzeige gesucht hat: „An der Berliner Volksbühne am Rosa- Luxemburg-Platz ist zum nächstmöglichen Termin die Stelle eines/ einer Vorschreiber/in zu besetzen“, muß es da geheißen haben. „Sie haben ein abgeschlossenes Hausmeisterstudium oder eine vergleichbare Ausbildung. Als Vorschreiber sind Sie für die Einhaltung unserer Hausordnung zuständig. Sie hindern unsere Besucher daran, schnell an ihren Platz zu gelangen, und sorgen dafür, daß die Gäste unseres Theaters über möglichst viele Besucherbeine hinwegsteigen müssen. Sie sind stur, uneinsichtig und durchsetzungsfähig.“
Sicherlich haben sich Tausende um diesen Job beworben. Bekommen hat ihn dann aber einer, der es an Engagement fehlen läßt – jedenfalls wird er nicht handgreiflich, wenn man ihn und die Vorschrift ignoriert.
An anderer Stelle kann es aber sehr gefährlich sein, Vorschriften zu ignorieren, etwa in einem Kreuzberger Supermarkt. Hier ist nach einem Umbau das Eingangsdrehkreuz versetzt worden. Anstatt wie früher geradeaus durch den Laden zu marschieren, muß man sich nun scharf nach links wenden. Wer das noch nicht weiß, findet sich vor einer Regalrückwand wieder, entdeckt jedoch gleich einen Durchschlupf, vorbei am Förderband einer nicht besetzten Kasse. Das ist gegen die Vorschrift. Man darf den Verkaufsraum nur durch das Drehkreuz betreten. Bei Zuwiderhandlung ist das Verkaufspersonal angewiesen, einen ordentlich zusammenzuschreien: „Das ist kein Eingang! Der Eingang ist hier vorne!“
Und das ist noch nicht alles. Denn nun schalten sich auch noch die Kunden ein, die an der besetzten Kasse Schlange stehen. Als habe man sich vorgedrängelt – was aber gar nicht der Fall ist, denn noch steht man ja mit leeren Händen da –, murren und meckern sie und fordern schließlich unisono: „Rausgehen und noch mal reinkommen! Rausgehen und noch mal reinkommen!“ Zum Glück gehören Bäume und Stricke nicht zum Supermarktinventar. Die ersten Vorschreiber und -schreier greifen jedoch bereits nach den Konservendosen in ihren Einkaufswagen. Soll man rausgehen und nie wieder reinkommen? Nein, denn da fällt einem eine weitere Vorschrift ein: Man wirft nicht mit Waren, die man noch nicht bezahlt hat. Puuuh.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen