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Die Redefreiheit im Fadenkreuz

Seit 25 Jahren zeichnet „Index on Censorship“ eine „Landkarte der Zensur“, nun ist eine Würdigung der Arbeit erschienen  ■ Von Udo Scheer

Die Konfliktzonen verschieben sich, aber die Bilder gleichen sich. 1973 sang Wolf Biermann das Lied vom Kameramann in Chile, der seinen Mörder beim Mord filmte. Das Umschlagfoto auf der „Landkarte der Zensur“ zeigt den Journalisten Iwan Skopan während des Moskauer Militärputsches 1993. Auch er richtet den Fotoapparat auf seinen Mörder in Gefechtsmontur.

Dem Anliegen, politische und religiöse Willkür gegen Andersdenkende, Zensur und Redeverbot, Meinungsmanipulation und Verfolgung von Schriftstellern und Journalisten weltweit öffentlich zu machen, widmet sich die Zeitschrift Index on Censorship nunmehr seit über 25 Jahren. 1972, auf dem Höhepunkt der sowjetischen Dissidentenhatz in London gegründet, veröffentlicht sie regelmäßig erschütternde Reportagen und hintergründige Erzählungen über Menschenrechtsverletzungen und Unterdrückung. Essays setzen sich mit Mechanismen auseinander, die zur Unfreiheit führen, und diskutieren die Frage: Wieviel Meinungsfreiheit braucht die Demokratie? Wieviel Meinungsfreiheit verträgt sie?

Die Zeitschrift wurde zu einem der wichtigsten Begleiter der osteuropäischen, afrikanischen, lateinamerikanischen, asiatischen und arabischen Demokratiebewegungen. Wohl jedes Exemplar ihrer bis zu 3.000 Freiabonnements durchbrach die Mauer der Isolation, mit der die Herrschenden ihre Gegner mundtot machen wollten. Zugleich stagnierte die Auflage bei 15.000. Das ist wenig, denn Index on Censorship wird in über 100 Ländern gelesen – am wenigsten von der mündigen Mehrheit in unserer westlichen Welt. Hier überwiegt das voyeuristische Interesse, wenn es um Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen anderswo geht.

Mit dem Fall der Mauer 1989 erübrigte sich die Zeitschrift keineswegs, wie einige ihrer Geldgeber meinten. Der iranische Radikalfundamentalismus, seine gegen Salman Rushdi verhängte Fatwa, das 1995 vollstreckte Todesurteil gegen den nigerianischen Schriftsteller Ken Saro-Wiwa, der Massenmord in Ruanda, der jugoslawische Bürgerkrieg, Nationalismus und Fanatismus weltweit machen deutlich: Leider werden Index on Censorship die Themen so bald nicht ausgehen. Davon zeugt auch die im Ch. Links Verlag erschienene Auswahl packender Erzählungen, haarsträubender Reportagen und Essays aus 15 Ländern. Herausgegeben wurde diese Sammlung von der taz und der Heinrich-Böll-Stiftung.

Der iranische Schriftsteller Nasim Khaksar, der unter dem Schah acht Jahre im Gefängnis saß und während der islamischen Revolution erneut eingesperrt wurde, erzählt eine drastische und zugleich ironische Geschichte über „Erziehungserfolge“, die um so größer werden, je brutaler die Folter ist. Diese Erfolge sind so enorm, daß „reuige“ Gefangene, um ihren „Erziehern“ zu gefallen, die Uneinsichtigen selbst und härter auspeitschen als die Gefängnisschergen. Die chinesische Schriftstellerin Wen Yuhong bietet eine böse Allegorie auf Hundeschlächter aus Leidenschaft, die während der Kulturrevolution ihre Neigung voll ausleben durften. Sie portionierten Gegner zu Schlachtfleisch und boten es zum Verkauf an. Und die Masse machte mit. Der Text beruht auf tatsächlichen Vorkommnissen. Der im französischen Exil lebende türkische Autor Nedim Gürsel führt seine Leser zu einer phantastischen Begegnung mit ungeschriebenen oder von der Zensur verbotenen Büchern auf den „Friedhof der ungeschriebenen Bücher“. Diese und weitere Erzählungen sind keine elitären Kunstprodukte. Sie schöpfen aus einer perversen Realität und bleiben mit ihrer Ironie, Satire, ihrem dunklen Humor und allegorischen Bildern nah an der Wirklichkeit. Sie stören auf.

In einem kleinen essayistischen Block geht der amerikanische Rechtsphilosoph Ronald Dworlin, der Redaktionsmitglied des Index on Censorship ist, der Frage nach: „Ist die Freiheit der Rede in Wort, Bild und Schrift ein universales Menschenrecht?“ Gilt sie auch für Pornographie und Rassismus? Oder steht über der universalen Freiheit eine höhere Verantwortung zum Schutz der Schwächeren? Wie verführerisch ist die Idee der Einschränkung von Rede- und Pressefreiheit in der Demokratie? Degeneriert sie nicht sehr schnell zu einem problematischen Schutz der Herrschenden und gefährdet somit die offene Gesellschaft?

Ursula Owen, die Chefredakteurin der Zeitschrift, weist an Beispielen nach, wie leicht aus Worten Kugeln werden, etwa im Fall Jitzhak Rabin, den rechtsradikale Israeli ungestraft Verräter und Mörder nennen durften. Ihre Saat ging auf. Im November 1995 erschoß ihn ein fanatisierter Jurastudent. Seither stagnierte der Friedensprozeß zwischen Israelis und Palästinensern. Da erscheint es beinah wie eine Binsenweisheit, wenn der Amerikaner Roger Kimball – zwar im Hinblick auf Kunst und Forderungen nach deren absoluter Freiheit, aber zugleich allgemeingültig – feststellt: „Es lohnt sich ... vorzustellen, was für ein Alptraum das Leben in einer Gesellschaft ohne Tabus wäre.“ – Eine Vorstellung, die in diktatorischen Regimen partieller Alltag ist.

Durchaus alarmierend ist das Weiterwirken diktaturgeprägter Verhaltensweisen in jungen Demokratien. Alexej Simonow, der Vorsitzende der russischen Stiftung von Glasnost, stellt zur Situation des Journalismus in seinem Land nach der Abschaffung der Zensur fest: „Die Überzeugung vieler ausländischer Beobachter, die Wiederkehr des Kommunismus ... in Rußland sei unmöglich, weil wir eine freie Presse haben, die das verhindert, kann ich nicht teilen.“ Er bescheinigt den russischen Journalisten auch weiterhin anerzogene Selbstzensur, Nachgeben bei politischem Druck oder Druck durch kriminelle Organisationen. Wie subtil die Freiheit des Wortes unterdrückt werden kann, berichtet die indische Verlegerin Urvashi Butalia. Sie schildert die Selbstzensur vor dem Hintergrund neuer Tugendwächter, die sich einem aufkommenden Nationalismus und religiösem Fundamentalismus andienen. Nicht nur Rushdies „Satanische Verse“ sind verboten, es werden selbst Bücher verhindert, die nach internationalen Übereinkünften gültige Staatsgrenzen markieren, Grenzen, die der indischen Regierung mißfallen.

„Die Landkarte der Zensur“ ist 50 Jahre nach der UN-Menschenrechtskonvention ein erregendes Lesebuch über den Kampf um die Freiheit des Wortes, gegen die verbrämten bis brutalen Machenschaften von Machthabern, die unter Menschenrechten einzig ihr Recht zur willkürlichen Machtausübung verstehen wollen.

Heinrich-Böll-Stiftung, die tageszeitung (Hg.): „Die Landkarte der Zensur. Erzählungen, Reportagen und Essays für die Freiheit des Wortes aus dem ,Index on Censorship‘“. Ch. Links Verlag 1998, 208 Seiten, 24,80 DM

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