: Die Hülle, das sind die anderen
Splittern 2000: Ob Raver Chöre bilden, und warum Joschka Fischers Anzug hermeneutische Chefsache ist – die Theaterwissenschaft kann Erscheinungen dieseits und jenseits der Rampe erklären. In Berlin tagte das Fach zum Theater der neunziger Jahre ■ Von Petra Kohse
Überall ist es besser, wo wir nicht mehr sind. Wer in Berlin Theaterwissenschaft studiert hat und vor den Ibsen- und Schnitzler- Seminaren zu Beginn der neunziger Jahre in die journalistische Praxis geflohen ist, kam am Wochenende aus dem Staunen nicht mehr heraus. Auf geradezu rücksichtslose Weise hat sich das Fach seither zurechtgemoppelt, und ist nicht nur in der Gegenwart angekommen, sondern macht sich dort auch heiter und selbstbewußt zu schaffen. Glanz vom Glanze des Forschungsobjekts fällt auf den Diskurs und führt zu einer gelassenen Aufbruchstimmung: Vorhang auf und alle Fragen offen.
Es hat stattgefunden: ein Kongreß. Der vierte Kongreß der Gesellschaft für Theaterwissenschaft, gemeinsam veranstaltet von den entsprechenden Sektionen der Freien und der Humboldt-Universität in Berlin. Im 50. Jahr des Bestehens des Westberliner Instituts und 75 Jahre nach der Berliner Gründung des ersten theaterwissenschaftlichen Seminars durch Max Herrmann, haben es die beiden Einrichtungen dennoch nicht nötig, sich durch ihre Geschichte zu legitimieren. „Transformationen – Theater der neunziger Jahre“ ist statt dessen das Thema, das etliche Schnittstellen zur wirklichen Welt und zu anderen Künsten enthält. Nicht ohne Grund schließlich wird über Theater mittlerweile auch in den Kreisen diskutiert, die gar nicht hingehen, begegnen einem Theaterkünstler in Talkshows, auf Werbeplakaten, im Kino, in Fernsehserien und sogar auf dem Wahlzettel. Wer da nicht forscht, ist selber schuld.
In dieser virulenten Situation konnte denn auch eine nicht so erfreuliche Transformation, die die Berliner Theaterwissenschaft in der Realpolitik derzeit bedroht, noch während der Eröffnungsveranstaltung im Deutschen Theater schnell und sauber verhindert werden. Gegen den Vorschlag beider Berliner Universitäten selbst, das theaterwissenschaftliche Seminar der Humboldt-Universität aufzulösen, verwehrten sich nicht nur verständlicherweise der Präsident der Gesellschaft für Theaterwissenschaft sowie die beiden Institutsleiter Joachim Fiebach (HU) und Erika Fischer-Lichte (FU), sondern auch der anwesende Berliner Senator für Kultur, Forschung und Wissenschaft, Peter Radunski. Er, der sich nicht ohne Rührung daran erinnerte, als Gaststudent Theaterwissenschaftsvorlesungen gehört zu haben, versicherte sein volles Wohlwollen sowie – helf ich dir, dann hilfst du mir – sein spezielles Interesse an einer möglichen wissenschaftlichen Infragestellung des handelsüblichen Ensembletheaters.
Auch die Vizepräsidenten beider Berliner Universitäten schlossen sich dem Lob der Theaterwissenschaft an, eine politisch signalhafte Einstimmigkeit, die wohl nicht unmaßgeblich – am Gelde hängt, zum Gelde drängt doch alles – dadurch beeinflußt sein dürfte, daß es Erika Fischer-Lichte soeben gelungen ist, bei der Deutschen Forschungsgesellschaft einen Sonderforschungsbereich „Kulturen des Performativen“ durchzusetzen. Es handelt sich um den ersten geisteswissenschaftlichen Sonderforschungsbereich an der FU überhaupt, und nicht nur die Theaterwissenschaftler werden davon profitieren.
Fröhliche Wissenschaft, und wie auch nicht bei einem Thema, das sich in diesem Jahrzehnt ohne Not in die Leitartikelspalten der Zeitungen vorgearbeitet hat. Die „politische Inszenierung“ ist längst ein geflügeltes Wort und die Theatralisierung des Alltags unübersehbar. Aber auch im einzelnen lassen sich mit Hilfe theaterwissenschaftlicher Ansätze Phänomene der wirklichen Welt erfassen. Die These des Frankfurter Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann beispielsweise, daß die Körper auf der Bühne heutzutage in erster Linie sich selbst repräsentieren („das postdramatische Theater ist das der Erscheinung“), wird durch das große journalistische Interesse am Äußeren der neuen Regierungsmitglieder noch am Tag der Kongreßeröffnung belegt.
Kostüm, Körperausdruck und Sprechhaltung von Außenminister Fischer etwa, sein offenkundiger Rollenwandel vom „Joschka“ zum „Joseph“, sind hermeneutische Chefsache und deren Ergebnis eine Nachricht von hoher Priorität. In einer Situation, in der Gesellschaft neu beschrieben und definiert werden muß, verfügt die Theaterwissenschaft (einst die kleine und aufgrund der Flüchtigkeit ihres Gegenstands gern belächelte Schwester der Germanistik) über semiotisches Herrschaftswissen.
Die Arbeit des Tages muß natürlich trotzdem getan werden und besteht durchaus in kleinteiliger Bestandsaufnahme, wie die anschließenden Vorträge im Westberliner Institut zu Themen wie „Theater und Medien“, „Theater und Geschichte(n)“ oder „Darstellen und Zuschauen“ zeigten. Doch diese Art von Genauigkeit ist es auch, die die Übertragbarkeit auf vergleichbare Vorgänge diesseits der Rampe ermöglicht. Geradezu stromlinienförmig führten etwa die Referate über das Chorische in der Arbeit von Einar Schleef, Jossi Wieler oder auch Frank Castorf zur Frage einer Teilnehmerin, ob denn wohl die Raver als Chor im Sinne einer Theatergemeinschaft zu bezeichnen seien. Ob sie das sind, ob sie ein echtes Kollektiv bilden oder am Ende doch nur eine Ansammlung von Individuen bleiben, ließe sich nach theaterwissenschaftlich entwickelten Kriterien diskutieren und dürfte Soziologen bestimmt interessieren.
Genuin auf die Erfahrungen in der wirklichen Welt bezogen, war der Vortrag von Jens Roselt aus Gießen. Unter dem Titel „Vom Affekt zum Effekt“ analysierte er den Pop-Aspekt in Theaterarbeiten (nicht nur) der Gießener Schule als Synthese von Posen, ausgestellten Emotionen und biographischem Kontext einer vollmediatisiert aufgewachsenen Generation. „Wie lächelt man auf der Bühne, wenn hinter jedem Lächeln ein Schokoriegel blitzt, der durch dieses Lächeln verkauft werden soll?“ Eine echte Frage, die offenbar auch in vatermörderischer Absicht gestellt wurde, denn daß die Fiftysomethings, die heutzutage die C 4-Professuren innehaben, ihre Berechtigung kaum nachvollziehen können, stellte Roselt nebenbei unmißverständlich klar.
Während „Wahrnehmungspolitiker“ unter den Theaterwissenschaftlern wie Hans-Thies Lehmann der Gesellschaft bei ihrer Selbstbeschreibung also kräftig beizuspringen vermögen, sind – eine Frage der Generation wie der Praxisorientierung – Forscher wie Jens Roselt für jüngere Theatermacher ungeheuer wichtig. Denn deren Schwierigkeiten mit den eigenen Wahrheiten sind derzeit offenkundig. Nicht nur das Bekenntnis des Volksbühnenregisseurs Michael Talke, in ihm sei „mehr Lassie und Flipper“ als Literatur und Ideologie, knüpfte bei der den Kongreß abschließenden Podiumsdiskussion am Sonntag vormittag in der Akademie der Künste unmittelbar an Roselt an.
Auch die von der Direktorin des Hebbel-Theaters, Nele Härtling, traurig geäußerte Einschätzung, daß das Wegbrechen des internationalen Koproduktionsnetzes für Projekte der klassischen Avantgarde ein Symptom für das Ende einer Epoche und die zukünftige Avantgarde möglicherweise lokal orientiert sein könnte, bringt den Lebenskontext der Theatermacher verstärkt mit ins Spiel. Verallgemeinernde Stellungnahmen zur Gesellschaft scheinen nicht mehr möglich, doch das sogenannte Geschichtenerzählen, die Umsetzung von Handlungsdramatik auf der Bühne, ist auch keine Alternative. Niemand kann schließlich hinter das zurück, was Lehmann „Theater der Erscheinung“ nennt, die Diskontinuitätserfahrung des Subjekts ist nicht repräsentationsfähig.
Das sieht mittlerweile selbst Thomas Ostermeier so, vor kurzem noch ein glühender Verfechter der „Behauptung von Geschichten“. Bis zum Jahr 2000 künstlerischer Leiter der Baracke des Deutschen Theaters, danach der Schaubühne, arbeitet er augenblicklich tätig an seiner Selbstbestimmung. Zum allmonatlichen Diskussionsforum in der Baracke hatte er – unabhängig vom Kongreß – am Sonntag nachmittag Matthias Lilienthal zu Gast, den in Kürze scheidenden Chefdramaturgen der Volksbühne. Eigentlich war Castorf selbst eingeladen gewesen, um, wie Lilienthal es verstanden hatte, gezeigt zu bekommen, daß er sich mit seinem dekonstruktivistischen Zugriff auf Theater mittlerweile auf dem Altenteil befände.
Weil der aber keine Zeit oder keine Lust hatte, war Lilienthal da, und die Sache sah auch völlig anders aus. Denn trotz oder gerade wegen des großen Erfolgs beim Publikum ist man in der Baracke mißtrauisch geworden und kann all die britischen „well made plays“ eigentlich selbst nicht mehr ertragen. Dramatisch anspruchsvollere, zersplitterte Biographien, andeutende Versuche wie „Angriffe auf Anne“ von Martin Crimp interessieren jetzt mehr, und sogar der Eventkultur à la Volksbühne zeigt man sich letztlich nicht abgeneigt. Bei soviel kultiviertem Eleventum mutierte der zur Klärung des Generationskonflikts geladene Profi Lilienthal unversehens zum väterlichen Typberater.
Der Anspruch auf Reflexion der eigenen Arbeit und eine ausführliche Suchbewegung, den Ostermeier wie Michael Talke auf ihre je eigene Weise erheben, einerseits und die Konkretion der theaterwissenschaftlichen Ansätze andererseits spiegeln auch den teilweisen Zusammenfall von Subjekt und Objekt in den Performanceaspekten zeitgenössischer Arbeiten von Castorf bis Schlingensief, Stefan Pucher, Gob Squad und vielleicht irgendwann auch Ostermeier. Darum gilt nicht nur nach wie vor das Wir-alle-spielen-Theater, sondern inzwischen auch: Lustvolle Teilhabe am Diskurs jetzt! (gespielt wird nebenbei), – denn, so noch einmal Hans-Thies Lehmann: „Wenn das Theater aus der intellektuellen Diskussion herausrutscht, nutzt es auch nichts, wenn die Häuser voll sind.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen