"Berlin ist eine Herausforderung für mich"

■ Von der Insel in die Großstadt: Der neue liberale Rabbiner Berlins, Walter Rothschild, setzt auf Reformen in Deutschlands größter jüdischer Gemeinde. Kritische Überlegungen zum Holocaust-Denkmal,

taz: Rabbi Rothschild, Sie kommen neu in eine große Stadt. Kennen Sie einen jüdischen Witz, der darüber handelt?

Rothschild: Nein, ich kann nur sagen, daß in meiner vorigen Gemeinde in der Karibik einer Berlinski hieß. Er war im Vorstand. Also haben wir gesagt: Wir gehen von Berlinski nach Berlin.

Ihr Posten war lange vakant. Ein Mitglied Ihrer Gemeinde sagte, auch deshalb, weil es hier kaum jüdisches Leben gibt – und wegen der Geschichte des Holocaust. War das ein Hinderungsgrund für Sie?

Gar keiner. Eigentlich mehr eine Herausforderung. Es gibt was hier zu tun. Ich bin in einer kleinen jüdischen Gemeinde aufgewachsen, in Nordengland, und wenn ich sage „klein“, heißt das: Wir hatten viele Jahre keinen Rabbiner. Wir mußten als Laien in einem Turnus den Gottesdienst leiten. Ich habe es seit meiner Bar Mizwa [der jüdischen Konfirmation] getan. Berlin ist dagegen groß, relativ groß mit etwa 11.500 Gemeindemitgliedern.

Hier stehen immer zwei Polizisten vor der Tür stehen. Ist das nicht unangenehm?

Das ist auch so in Österreich. Normalerweise ist eine Kirche oder eine Moschee etwas Großes mit großen Plakaten dran: Bitte komm herein! Hier hat man ganz anonyme Gebäude, aber mit einem Polizisten davor. Die armen Kerle tun gar nichts, und das ist auch richtig, denn solange sie dort bleiben, soll es gar nichts zu tun geben. Das muß sehr langweilig sein. Ich habe ein großes Mitleid mit ihnen. Man braucht Sicherheitsmaßnahmen, die hat man nicht nur in Deutschland. Wenn es nötig ist, bin ich bereit, das zu akzeptieren. Man erlebt das ja auch beim Fliegen jedesmal.

Sie haben hier in der Berliner Gemeinde viele ältere Menschen, die traumatisiert sind durch den Holocaust. Wie helfen Sie denen?

Man findet überall solche Überlebenden. Mein Vater ist aus Deutschland geflohen, aber ich selbst kann keine Geschichten erzählen von meiner „guten alten Zeit“ in Buchenwald oder Treblinka.

Die alten Leute brauchen oft nur einen, der zuhört, der auch ein bißchen Mitleid hat. Sie haben ganz praktische Probleme: Papiere oder sie haben den Kontakt zu ihrer Familie verloren... Hinzu kommt: Wer die ganze Familie verloren hat, dem ist der Tod kein Fremder. In England wollten einige Gemeindemitglieder eine Feuerbestattung. Sie sagten: Wir haben keine Familiengräber, meine Familie ist irgendwo Asche. Der einzige Weg, zusammen zu liegen, ist, gar keinen Platz zu haben.

Selbst die neu hinzukommenden russischen Juden haben dieselben Probleme: Sie waren vierzig, fünfzig Jahre in einer stalinistischen Gesellschaft, sie haben viel verloren und erlitten im Krieg. Seelsorge bedeutet: Jeder Fall, jeder Kunde ist neu und anders.

Finden Sie, daß hier in Deutschland die Orientierung auf den Holocaust zu stark ist? Sollte es eine Umorientierung, mehr in die Zukunft geben?

Die älteren Leute brauchen Unterstützung, ihnen sind diese Denkmäler oder Mahnmale sehr wichtig. Aber das ist auch so bei Nichtjuden: Vor dem Krieg und nach dem Krieg – das sind zwei verschiedene Welten. Wir haben Leute, deren ganzes Leben ist Zionismus, bei anderen ist ihr ganzes Leben Holocaust, bei anderen jüdisch-christliche Zusammenarbeit, andere haben sich in die Synagoge, in den Ritus vertieft, jeder hat seinen eigenen Weg gefunden. Ich finde es interessant.

Es gibt derzeit die Diskussion, ob ein Holocaust-Mahnmal gebaut werden sollte in Berlin.

Oh boy, das ist eine politische Frage. Zuerst tut es mir furchtbar leid, daß es eine politische Frage geworden ist, es sollte keine politische Frage sein. Aber es ist eine geworden, was bedeutet: Was man auch sagt, es ist falsch. Meinem ästhetischen Empfinden nach brauchen wir etwas Relevanteres als das, was ich bisher bei den Modellen gesehen habe. Daß Berlin, besonders Berlin, besonders in der Nähe der Wilhelmstraße, des Reichstags, etwas braucht, das daran erinnert, was geschehen ist, finde ich wichtig.

Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlins, Herr Nachama, hat vorgeschlagen, daß es statt des Holocaust-Mahnmals eine Hochschule für monotheistische Religionen geben soll.

Das brauchen wir auch. Das eine sollte das andere aber nicht verdrängen. Wir haben hier in Deutschland schon ehemalige Konzentrationslager, etwa Sachsenhausen, Dachau, Neuengamme. Davon haben die Juden schon genug. Deshalb werden wir nicht für diesen neuen Platz bezahlen, und wir werden ihn nicht benutzen. Die Juden kennen ihre eigene Geschichte, es sind die Deutschen, die ihre Geschichte kennenlernen müssen.

Deutschland hat den Krieg angefangen, einen hohen Preis gezahlt: Ganze Städte in Schutt und Asche, das sollen die Leute dokumentieren, das ist das Alpha und Omega. Ich würde das Wort „Denkmal“ in zwei teilen und einen Befehl daraus machen: „Denk mal!“ Wir sollten noch mehr denken und weniger Denkmäler errichten.

Jetzt gibt es den Vorschlag, ein Holocaust-Museum zu installieren. Was halten Sie davon?

Es gibt schon so viele: in Washington, in Jerusalem, das Imperial War Museum in London eröffnet eine Abteilung zum Holocaust. Wozu bräuchte man es? Man bräuchte etwas, wodurch kommende Generationen etwas lernen können.

Es gibt ja auch schon das Jüdische Museum hier in Berlin, aber da sind die Finanzierung und das Konzept umstritten.

Das ist auch eine politische Frage, aber Judentum ist nicht Holocaust. Ein jüdisches Museum ist über jüdisches Leben. Ein Holocaust-Museum ist über einen jüdischen Tod – und über den von anderen auch: von Homosexuellen, von Zigeunern, von Kommunisten. Man braucht irgend etwas, das zeigt, was Krieg bedeutet. Nicht nur in den Geschichtsbüchern, nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern in der ganzen Gesellschaft.

Aber das Jüdische Museum ist eines über Juden, über jüdische Riten, jüdische Texte, das Leben von Juden in verschiedenen Jahrhunderten – das ist eine Sache. Das Holocaust-Museum ist etwas anderes. Ein lebendiges jüdisches Museum hat mehr Witz als Auschwitz. Oder soll man sagen: Auschwitz ist nicht der einzige Witz.

Ein makabrer Witz.

Ein makabrer Witz, aber so ist es. Man denkt immer zuviel an diese furchtbare Periode. Jetzt ist es meine Aufgabe, auch lebendige Juden zu betreuen.

Jede Glaubensrichtung hat derzeit das Problem, daß junge Leute nur spärlich in die Gotteshäuser kommen. Was wollen Sie tun, um junge Leute anzulocken?

Warum kommen die Leute nicht? Vielleicht verstehen sie nichts davon. Das Marketing muß gut sein. Die Sekten sind auch Religionen, religiöse Gemeinschaften sozusagen, sie haben ein sehr gutes Marketing und Public Relations. Der Inhalt ist schlecht, ist Quatsch, ist Scheiße, aber die Präsentation ist wunderbar. Wir können davon lernen.

Dasselbe Problem gibt es mit den russischen Juden. Viele können kein Deutsch, haben bisher wenig mit ihrer Religion zu tun. Sind sie trotzdem willkommen?

Berlin ist eine der wenigen jüdischen Gemeinden, die wachsen. Jeden Monat kommen neue Mitglieder. Wunderbar! Die anderen Gemeinden klagen immer über Mischehen und Juden, die austreten, kein Interesse mehr haben. Hier haben wir jeden Monat potentielle neue Kunden. Und wenn sie sich nicht interessieren, dann ist das auch unsere Schuld. Hier hat man ein Potential, hier ist Hoffnung.

Zerreißt es die Gemeinde nicht?

Was heißt „die Gemeinde“? Viele der anderen Leute hier sind auch nicht hier geboren, sind als Displaced Persons hier geblieben. Sie sollen ein bißchem mehr Mitleid haben, wie es sich anfühlt, in ein neues Land zu kommen, eine neue Sprache zu lernen. Ohne diese Welle an Zuwanderern würden viel weniger Hochzeiten, Beschneidungen und Bar Mizwas gefeiert. Es gibt auch jüngere Leute, die gekommen sind. Das ist wichtig. Es gibt Probleme, wenn jemand als Neuling kommt und will in drei Monaten alles übernehmen. Aber das findet man überall, in einem Golfklub auch, das findet man auch im Bundestag oder in einer Koalition.

Man muß die Leute einbinden und lehren, etwas zu machen: als Assistenten in der Synagoge oder einen Shabbat-Abend zu Hause für die Russen machen. Wir brauchen viel Hilfe, Lehrkräfte, die Russisch sprechen. Aber was heißt Problem? Problem ist etwas, für das man noch keine Lösung gefunden hat. Und so einen Weg suchen wir.

Wie kann man an neue Rabbiner und Lehrkräfte kommen?

Ich weiß nicht, ich habe hier Arbeit für drei Rabbiner. Ich habe fünf Synagogen. Ich bin zuständig für alles, was nicht orthodox ist in Berlin. Und das bedeutet: Von den 11.500 Juden landen 10.500 auf meinem Tisch. Es ist viel zuviel. Ich fühle mich schon überaltert und übermüdet und gestreßt.

Wie wäre es da, wenn man auch Frauen erlauben würde, Rabbiner zu werden.?

Eine meiner Schwestern ist Rabbinerin. Was kann ich sagen? (lacht) Wir sind Kollegen. Sie hat eine Gemeinde in Kent. Ich habe persönlich keine Probleme damit. Die Gemeinde hier hat große Probleme damit. Von meinen fünf Synagogen ist eine egalitär. Von den anderen vier hat eine einen Frauenchor. In den anderen dreien sind die Frauen noch nicht gleichberechtigt, aber in einer von denen kann ein Mädchen eine Bat Mizwa machen: Während der Bat Mizwa auf dem Pult stehen, aber nachher nicht. Ganz unlogisch! Okay, da gibt es noch viel zu tun.

Ein anderes Streitthema: Trauungen zwischen Juden und Nichtjuden. Würden Sie so eine gemischte Trauung vornehmen?

Ich darf das nicht. Es ist mir verboten von meiner Rabbinergesellschaft The Assembly of Rabbis. (Pause) Ich bin dagegen, aber ich kann es nicht verbieten. Liebe existiert, Sex existiert, so habe ich gehört – ich habe es persönlich vergessen. Besonders, wenn man nur eine kleine Minderheit ist, gibt es keine große Auswahl an Partnern. Aber es geht nicht nur um den Partner, sondern auch um die Kinder: Was für eine Erziehung sollen die Kinder haben? Sollen sie zur Taufe gehen oder zur Beschneidung? Das Leben ist nicht einfach. Junge Leute, die verliebt sind, denken, daß es ganz einfach ist, daß Liebe über alles siegt, und ein alter deprimierter Rabbiner sieht das anders.

Sind Sie deprimiert?

Natürlich, darum bin ich Rabbiner. Interview: Philipp Gessler