Die Krankheit der Armen

Über Jahrtausende wurden Leprakranke als Aussätzige behandelt. Jetzt hoffen indische Forscher, einen Impfstoff gegen die heimtückische Krankheit entwickeln zu können, der darüber hinaus preisgünstig ist  ■ Von Knut Henkel

Der Termin für die Veröffentlichung der spektakulären Forschungsergebnisse war gut gewählt. Am fünfzigsten Todestag Mahatma Ghandis präsentierte das All India Institute of Medical Science in Neu-Delhi ein Medikament, das die Lepratherapie revolutionieren könnte.

Nicht nur einen Silberstreif am Horizont, sondern „einen großen Schub in Richtung Ausrottung der Lepra“ verspricht sich Manju Sharma, Generalsekretär an der biotechnologischen Forschungsabteilung des All-India-Instituts, von dem Impfstoff, der die bisherige Kombinationstherapie ergänzen und beschleunigen soll. Das Besondere an dem Mittel, das unter dem Namen Leprovac auf den Markt kommen soll, ist, daß es das Immunsystem der Patienten stimuliert, die Leprabakterien zu bekämpfen und abzutöten. Dadurch könne, sagt der Arzt Rama Mukherjee, die klassische Multitherapie entscheidend verkürzt werden. Statt der bisher obligatorischen 12 bis 24 Monate könne die Behandlungszeit auf sechs Monate verkürzt werden. Leprovac selbst soll, so die Hersteller von Cadilla Pharmaceuticals, pro Dosis nur dreißig Pfennige kosten – angesichts von acht notwendigen Dosen ein äußerst preisgünstiges Präparat.

Damit besitzen die indischen Wissenschaftler zwar noch keinen Impfstoff gegen eine der heimtückischsten Infektionskrankheiten, aber die Weichen dafür sind gestellt. Mit Hilfe von zwei engen, aber ungefährlichen Verwandten des Lepraerregers konnten sie bei Patienten eine Immunreaktion hervorrufen, die auch das eigentliche Leprabakterium schwächt.

„Das ist ein großer Fortschritt“, freut sich Eike Voigt, Geschäftsführer der Lepra-Mission in Esslingen, „zumal es gerade Indien, dem Hauptlepraland, gelang, das neue Medikament zu entwickeln. Der schnelle Heilungsverlauf, der durch die Impfung zustande kommt, könnte uns die Arbeit vor Ort erleichtern“, hofft Voigt. Zum einen müßten die Leprapatienten dann eben nicht über den langen Zeitraum von zwei Jahren „bei der Stange gehalten werden“, zum anderen hofft Voigt, daß schnelle Behandlungserfolge die Schäden, die von der Lepra hervorgerufen werden, in Grenzen halten.

Die tückische Infektionskrankheit, die in extremen Fällen auch noch dreißig Jahre nach der Übertragung des Erregers durch Tröpfcheninfektion ausbricht, wächst am besten bei Temperaturen von 33 Grad Celsius. Demzufolge sind am häufigsten und stärksten Gesicht, manchmal die Augen, die Glieder und die Haut der Leprakranken betroffen, wobei die Krankheitssymptome von Patient zu Patient stark variieren.

Leprakranke werden in vielen Ländern immer noch wie Aussätzige behandelt, verlieren ihre Arbeit, ihre Freunde und werden oft von ihren Familien verstoßen. Und dies, obgleich alle Formen der Lepra mittlerweile heilbar sind und die Ansteckungsgefahr in Vergleich zu anderen Infektionskrankheiten verhältnismäßig gering ist. Nur rund fünf bis zehn Prozent der Menschen sind aufgrund der körpereigenen Immunabwehr anfällig für Lepra. Ein weiteres spezifisches Charakteristikum der Lepra ist die langsame Vermehrung der Erreger. Das Mycobacterium leprae teilt sich im Gegensatz zu anderen Bakterien nur sehr langsam. Rund dreizehn Tage dauert es, bis sich ein Bakterium verdoppelt. Damit einher geht eine extrem lange Inkubationszeit, die zwischen einigen Monaten und bis zu dreißig Jahren liegen kann. Generell geht man allerdings von zwei bis drei Jahren aus.

Derart lange Inkubationszeiten erschweren allerdings auch die Bewertung der indischen Forschungsergebnisse, da erst nach mehrjähriger Nachbeobachtung sichere Aussagen möglich seien, erläutert Professor Manfred Dietrich, Leiter der klinischen Abteilung am Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin. „Der Ansatz der indischen Kollegen ist sehr interessant, aber es wäre verfrüht, falsche Erwartungen zu wecken.“

Allerdings zeigt sich Dietrich, der an der umfassendsten multinationalen Studie zur Therapie von Lepra mitarbeitete, von den ersten Ergebnissen aus Neu-Delhi beeindruckt: „Daß achtzig Prozent der offensichtlich an Lepra erkrankten Patienten auf den Lepromintest reagierten, ist ein ermutigendes Zeichen“, gibt er zu. Normalerweise sind es gerade vierzehn Prozent, die nach der Injektion mit der Antigenmixtur Lepromin eine Immunantwort zeigen. Alle Patienten, die nicht reagieren, deren Immunsystem also nicht auf die Antigene der Erreger anspringt, gelten als sogenannte LL-Patienten. Sie leiden an der lepramatösen Lepra, der agressivsten Form der Krankheit, die zu Erblindung, schweren Verkrüppelungen und zum Tod führen kann.

LL-Patienten weisen eine Funktionsstörung des Immunsystems auf – ihre Lymphozyten verharren in Passivität, wenn sie auf Lepraerreger treffen. Weder im Körper noch im Laborversuch gelang es den Wissenschaftlern, eine Reaktion auf den Erreger zu provozieren. Dieses Phänomen, das als Anergie in den wissenschaftlichen Wortschatz eingegangen ist, hatte Hoffnungen auf die Entwicklung eines Impfstoffs schon frühzeitig gedämpft. Zumal es auch nicht gelang, größere Mengen des Mycobacterium leprae im Reagenzglas anzuzüchten, wie Jürgen König vom Deutschen Aussätzigen Hilfswerk (DAHW) in Würzburg bestätigt. Dies wäre aber als Basis für einen Impfstoff notwendig. Hinzu kommt, daß intensive Forschung sehr kostspielig, Lepra jedoch als klassische Armutskrankheit auf der Nordhalbkugel kaum verbreitet ist. Für die Pharmakonzerne sei deshalb der „Markt zu klein“ und die Aussichten auf Profit eher gering, weshalb Forschungsaktivitäten nur zu gern staatlichen Stellen überlassen werden, erläutert König.

Die zwanzig Jahre intensiver Forschungsarbeit, die nötig waren, um Leprovac zu entwickeln, hätte denn wohl auch kein Pharmakonzern getragen. Rama Mukherjee und G. P. Talwar sind der Entwicklung des Impfstoffes auf einem Umweg nahegekommen. Sie schafften es, zwei ungefährliche Mycobakterienarten anzuzüchten, die eng mit dem Lepraerreger verwandt sind. Nun injizierten sie die abgetöteten und gereinigten Bakterien Leprapatienten, woraufhin es zu besagter Kreuzimmunität kam: Das Immunsystem reagierte nicht nur auf die harmlosen Varianten, sondern auch auf das aggressive Mycobacterium leprae.

In Versuchsreihen mit einigen hundert LL-Patienten, die den Impfstoff ergänzend zur klassischen Multitherapie erhielten, heilten die typischen Hautveränderungen innerhalb kurzer Zeit ab, und auch die astronomische Zahl der Keime – eine Milliarde Keime pro Gramm Gewebe sind keine Seltenheit – ging auf null zurück. Auch auf den zur Sicherheit durchgeführten Lepromintest reagierte das Immunsystem der Patienten nun äußerst heftig – Beweis dafür, daß der Defekt des Immunsystems beseitigt werden konnte.

Ob Leprovac künftig auch als vollwertiger Impfstoff und nicht nur ergänzend zur Multitherapie eingesetzt werden kann, wird derzeit von den indischen Forschern überprüft. Die sogenannten Doppelblindstudien laufen seit einiger Zeit – mit Ergebnissen ist allerdings dem British Medical Journal zufolge erst in einigen Jahren zu rechnen.

Man müsse auch bedenken, „daß derzeit weltweit Versuche laufen, die klassische Kombinationstherapie auf sechs bis zwölf Monate zu verkürzen, so daß der Behandlungsvorteil, den Leprovac bieten könnte, schnell dahin wäre“, schränkt König noch ein.

Eine Einschätzung, die der Hamburger Tropenmediziner Miklos Hazay teilt. „Die derzeitige Behandlung ist so effektiv, daß sechs Monate durchaus reichen“, schildert er seine Erfahrungen. „Natürlich würde es mich freuen, wenn da was rauskommen würde, aber alle Versuche, einen Impfstoff zu entwickeln, sind bisher gescheitert, und die Diskussion über den zukünftigen Nutzen von Leprovac als echten Impfstoff ist eine Diskussion über ungelegte Eier“, gibt sich der Ungar, der in Leprazentren in Kalkutta Erfahrung sammelte, äußerst skeptisch.

Knut Henkel, 33, freier Lateinamerika- und Wissenschaftsautor, lebt in Hamburg.