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Ein ganzes Jahr Rot-Grün in Hamburg

■ Arbeit, Bildung, Soziales, Filz und Volk: Teil II des Koalitions-Checks der taz hamburg

Lesben- und Schwule

Im Bürgerschaftswahlkampf hatten SPD und GAL Schwule und Lesben als WählerInnen entdeckt. Die GAL hatte, ebenso wie die Bundes-Grünen, die Homo-Ehe zu einem Hauptziel erklärt, und die baldige Möglichkeit für lesbische und schwule Paare, sich standesamtlich registrieren zu lassen, wurde ein grünes Aushängeschild im Koalitionsvertrag. Rechtliche Folgen hat die Eintragung zwar nicht. Für AnhängerInnen der Institution Ehe ist das dennoch ein Fortschritt, für Ehe-KritikerInnen eher fragwürdig. Außerdem soll die Ausländerbehörde ihren Ermessensspielraum zugunsten binationaler Paare ausschöpfen. Die Adoptionsfrage ist in der SPD noch umstritten.

Im Senatsamt für die Gleichstellung gibt es jetzt zwei ReferentInnen für Gleichgeschlechtliche Lebensweisen, und Senatorinnen lassen sich am Christopher Street Day feiern. Beim Geld jedoch greifen die üblichen „Sachzwänge“: Der Etat für Aids-Präventionskampagnen wurde zusammengestrichen, die Aufklärungsarbeit konnte nur mittels privater Sponsoren aufrechterhalten werden. jam

Hochschulen

Das Protestpotential gegen Rot-Grün scheint groß, zumindest unter Studenten und Schülern, ihren Eltern und den Lehrern. „Die nachwachsende Generation hat Anspruch auf die bestmögliche Qualifikation“, heißt es im Koalitionsvertrag von SPD und GAL. Tausende von Hamburger StudentInnen setzten sich im Winter vergangenen Jahres sogar per Streik für dieses Ziel ein – und ernteten die wohlmeinende Solidarität ihrer grünen Wissenschaftssenatorin Krista Sager.

Verändert hat sich die Situation an Hamburgs Unis seither kaum. Stattdessen wurden mithilfe Sagers erste Privatisierungen festgeklopft: An der Uni entsteht das „Center for Graduate Studies“, an dem ausländische StudentInnen gegen Studiengebühr weiterqualifiziert werden sollen. An der TU in Harburg eröffnet 1999 mit Unterstützung der Hamburger Wirtschaft das „Northern Institute for Technology“, ebenfalls ein exklusives Studienangebot für ausländische Studenten, die zahlen können.

Auch ansonsten setzen die Unis und Sager auf die Spendierfreudigkeit einzelner Hamburger: So entstehen Neubauten, so werden Hörsäle mit neuen Stühlen bestückt. In Zeiten leerer Stadtkassen scheint Sponsoring das Modell der Zukunft – zumindest in Wissenschaft und Forschung. flo

Schulen

Auch Schulsenatorin Rosemarie Raab (SPD) erntete im ersten Jahr rot-grüner Regierungszeit deftigen Protest: Achzigtausend SchülerInnen, ihre LehrerInnen und Eltern gingen im Frühjahr auf die Straße um gegen ihre Politik zu demonstrieren. Dabei wird die Autonomie der Hamburger Schulen im Koalitionsvertrag noch großgeschrieben. Unter der Mitwirkung von Eltern und Schülern, so heißt es da, sollen „die pädagogischen, organisatorischen und finanziellen Gestaltungsmöglichkeiten der Schulen“ bis zum Jahr 2001 „erweitert werden“.

Bei der Einführung von muttersprachlichem Unterricht konnte die GAL sogar grüne Akzente setzen: Ausländische Kinder könnten danach künftig zuerst in ihrer Muttersprache unterrichtet werden und Deutsch als erste Fremdsprache lernen. Die Umsetzung in die Praxis bleibt hier abzuwarten.

Wie der pädagogische und finanzielle Spielraum von Hamburgs Schulen erweitert wird, führte Senatorin Raab allerdings schon vor: Die Lehrerstellen bleiben bis 2001 auf dem heutigen Stand eingefroren, und das trotz wachsender Schülerzahlen. Reglementierend greift Raab in den Arbeitsalltag der Lehrer ein. Derzeit brütet ihre Behörde eine „Richtlinie zur Verminderung von Unterrichtsausfall“ aus. Danach erhalten die Schulen lediglich die „Gestaltungsmöglichkeit“, künftig Honorarkräfte als Aushilfslehrer einzustellen. Das Geld, das sie dazu benötigen, sollen die Schulleiter zusammenkratzen, indem sie Förderstunden und geteilten Unterricht streichen.

Bevor Rosemarie Raab auf diese Weise alle reformerischen Ansätze ihrer früheren Bildungspolitik über den Haufen wirft, sollte sie vielleicht doch einen zaghaften Blick hinüber ins Ressort ihrer GAL-Kollegin Sager werfen. SPD-GenossInnen aus der Bürgerschaft haben dies schon getan: Dem Senat liegt ein Antrag vor, in dem er aufgefordert wird, Richtlinien zu erarbeiten, die es Schulen ermöglichen, mit „privaten Spenden- und Sponsorengeldern“ zu arbeiten. Erste Versuche starteten Hamburger Eltern schon, als sie sich zum laufenden Schuljahr zwei Lehrer einfach hinzukauften. flo

Arbeit

Wenn der rot-grüne Senat sich ein Oberziel gesetzt hat, dann war es die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Auf den ersten Blick erscheint hier alles prima: Mit 230 Millionen Mark hält Hamburg seine Mittel zur Arbeitsförderung auf einem hohen Niveau. Die leicht überdurchschnittliche Wirtschaftsentwicklung der Hansestadt sorgte für eine zarte Trendwende – die Arbeitslosenzahlen gehen derzeit zurück. Die Umstrukturierung der großen städtischen ABM-Gesellschaften ist abgeschlossen, neue Förderprogramme für Jugendliche laufen an. Also alles paletti? Leider nein.

Nicht nur die freien Träger der ABM-Szene schlagen Alarm: Große Staatsfirmen wie die SAGA dürfen neue Beschäftigungsträger gründen und gleichzeitig Personal abbauen. Das Versprechen einer Offensive im Bereich der Quartiersentwicklung und der kleinräumigen Wirtschaftspolitik wurde nicht eingelöst, die Chance für eine wirkliche Beschäftigungsoffensive wurde nicht genutzt. Das stört die rot-grünen Koalitionäre nur wenig, schließlich sinkt die Arbeitslosigkeit. Und: Wenn auch nicht der Sinn, so wurden doch die Buchstaben der Koalitionsvereinbarung hier weit schneller erfüllt als in vielen anderen Politikfeldern. fm

Filz

Ein Stichwort, das im Koalitionsvertrag nicht auftaucht, sorgte für die heftigste Erschütterung im rot-grünen Senat. 11 Tage nach der „100-Tage-Erfolgsbilanz“ der BürgermeisterInnen Runde und Sager mußte Sozialsenatorin Helgrit Fischer-Menzel (SPD) am 1. März zurücktreten. Die taz hamburg hatte tags zuvor enthüllt, daß sie einen millionenschweren Auftrag der Arbeits-, Gesundheits- und Sozialbehörde (BAGS) an eine Stiftung nachdrücklichst beeinflußt hatte, deren Geschäftsführer Senatorin-Gatte Peter Fischer ist. Zeitgleich wurde bekannt, daß der Leiter des Amtes für Arbeit & Sozialordnung in der BAGS, Uwe Riez (SPD, in dieser Funktion ein Millionendefizit der Gesellschaft Hamburger Arbeit (HAB) durch zusätzliche Zuwendungen ausgleichen ließ. Das Defizit war entstanden, als Riez Geschäftsführer der HAB war: Der Verdacht kam auf, daß Riez sich selber reinwusch. Beide Komplexe beschäftigen seitdem einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuß (PUA), der das oft behauptete Dickicht sozialdemokratischen Filzes in Hamburg und vor allem in der BAGS lichten soll. Der PUA wird noch ein Jahr lang Zeugen und Beschuldigte vernehmen. Mindestens. Ergebnis: offen. smv

Sozialmieten

Kaum hatte Fischer-Menzels Nachfolgerin Karin Roth (SPD) ihr Amt angetreten, wurde eine Weisung ihrer Behörde bekannt, die Mietobergrenzen für Sozialhilfeempfän-gerInnen zu senken. In der Folge forderten Hamburger Sozialämter Betroffene auf, unterzuvermieten oder sich eine billigere Wohnung zu suchen, weil ihre bisherige Sozialwohnung nun plötzlich drei Quadratmeter zu groß oder 20 Mark zu teuer wäre. Mietervereine, Initiativen und der grüne Koalitions-partner waren empört. Sie sahen die Gefahr von Obdachlosigkeit, weil keineswegs günstigere Wohnungen in Hamburg zu finden seien. Die neue Sozialsenatorin Roth aber stellt sich bislang stur, Initiativen und Grüne jedoch lassen nicht locker. Demnächst will SPD-Chef Jörg Kuhbier sich des Problems annehmen. Vileleicht hilft's ja. smv

Volksgesetz

Wie ein Thema souverän in die Grütze zu reiten ist, bewies Rot-Grün bei der Volksgesetzgebung. Dieser Punkt taucht im Koalitionsvertrag gar nicht auf – und führte dennoch zum bislang schärfsten Streit zwischen den Partnern. Das Ergebnis ist noch offen, der Schaden aber eklatant.

Die Vorschläge der Initiative „Mehr Demokratie“ zur fast völligen Beseitigung der Beteiligungs- und Zustimmungs-quoren bei Volksbegehren und Volksentscheiden hatte die SPD geflissentlich übersehen; die GAL hatte sie offiziell, aber nicht ernsthaft, unterstützt. Ihr Verfassungsexperte Martin Schmidt durfte werkeln, wie er wollte. Nach dem rauschenden Erfolg des Volksbegehrens im März wachten beide Parteien auf. Die Grünen merkten, wie sehr Schmidt sie in Zugzwang gebracht hatte, und forderten vom Koalitionspartner, sich dem Begehren des Volkes anzuschließen. Bis Ende August dauerten die Streitereien, denn die SPD war und ist von allzu niedrigen Quoren alles andere als begeistert. In letzter Minute peitschte Rot-Grün einen Kompromißentwurf durch die Bürgerschaft, der bei der Volksabstimmung am 27. September dem Vorschlag von „Mehr Demokratie“ deutlich unterlag, obwohl auch dieser an den noch existierenden hohen Zustimmungshürden knapp scheiterte.

Für diesen Fall hatte die Koalition vereinbart, ihren Entwurf in der Bürgerschaft zu verabschieden. Doch die SPD wollte davon plötzlich nichts mehr wissen: Neuer Krach in der Koalition war die Folge, der noch nicht völlig ausgestanden ist. Der letzte Akt des Trauerspiels dürfte so aussehen: Der rot-grüne Entwurf wird – inclusive einiger von der CDU gewünschten Änderungen – Anfang nächsten Jahres als Verfassungsänderung von allen drei Bürgerschaftsfraktionen beschlossen; die Quoren für Volksentscheide werden dadurch soweit abgesenkt, daß „Mehr Demokratie“ in einem zweiten Anlauf ihren ursprünglichen Entwurf durchbekommt. Dann hat Hamburg den Salat, den bei der SPD niemand und bei der GAL kaum jemand wollte. smv

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