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An allem ist bloß Mutti schuld!

■ Das Uraufführungstheater setzte seine Reihe szenischer Lesungen fort: Zu sehen und zu hören war „Das Entzücken“ von Alissa Walser

Das sind Bernd und Angela, Bruder und Schwester, etwa Mitte bis Ende Zwanzig und notorisch in Geldnot. Bernd plant erfolglos Staudämme in der Türkei, Angela geht auf den Strich. Kurzfristig hat sie sich beim Bruder einquartiert, der zusehends genervt von dieser Schwester ist. Per Anrufbeantworter dringen dauernd die Stimmen irgendwelcher Liebhaber und Freier in die Ruhe seiner Wohnung. Durch die Wand redet David aus der Nachbarwohnung mit der polygamen Schwester. Außerdem ruft ständig Mutti an. Mutti hat Geburtstag und will eine Feier.

Und obwohl Mutti erst in der zweiten Hälfte des Stückes leibhaftig erscheint, ist sie die Hauptperson in Alissa Walsers „Das Entzücken“, das nun am Sonntag morgen die Reihe szenischer Lesungen des Uraufführungstheaters in der Vagantenbühne fortsetzte. So sehen wir ziemlich lange und manchmal recht verwirrt dem Treiben des ehrwürdigen Geschwisterpaares zu und vermuten: An allem ist bloß Mutti schuld. Doch während Bruder und Schwester über der Frage brüten: Was schenken wir Mutti?, dämmert uns langsam, daß dies gar nicht die Frage ist, die beide wirklich bewegt, sondern: Was nehmen wir ihr weg? Denn tatsächlich haben es Bernd und Angela auf Muttis Geld abgesehen. Geld, das ihr der Vater hinterlassen hat und das Mutti bloß behalten darf, wenn sie nie wieder einen Liebhaber hat. Überhaupt war Angela schon immer scharf auf alles, was Mutti gehörte. Egal, ob es das himbeerfarbene Kostüm oder der vergötterte Nachbar war. Es entsteht ein fieser Plan: David, der unbedarfte Nachbar und natürlich auch ein Liebhaber Angelas, wird angeheuert, die Mutter zu verführen. Während die Dinge dann ihren unvermeidlichen Lauf nehmen, blicken wir immer tiefer in den Abgrund jener Terrororganisation, die sich Familie nennt. Manchmal denkt man an August Strindbergs „Pelikan“, wo die Mutter zum Monster wird, weil Mann und Familienmitglieder wie Parasiten an ihr kleben. Am Ende von Alissa Walsers Stück ist gar nicht klar, ob die Mutter es nicht viel besser getroffen hat als ihre fiesen Kinder. Die haben zwar jetzt das Geld. Ansonsten aber haben sie ziemlich wenig.

In nun schon gewohnter Manier lasen fünf Schauspieler in einem angedeuteten Bühnenbild das Stück inklusive Regieanweisungen. Aber diesmal zeigten sich auch deutlich die Grenzen dieser Art der Stückepräsentation. Anja Franke, die die Angela las, und Maria Gräfe, die Mutti war, schafften es, den Figuren ein Bühnenleben einzuhauchen. Die männlichen Parts (Benjamin Sadler und Aloysius Itoka) waren bloß Stichwortgeber. An manchen Stellen war es deshalb schwer zu beurteilen, ob man es nun mit Schwächen des Stückes zu tun hatte, oder ob die Figuren schlicht eine Inszenierung brauchen, um sich wirklich zu entfalten.

Wir hoffen also, auf eine solche nicht mehr allzu lange warten zu müssen, und erlauben uns zum Ende noch die Bemerkung, daß ein szenischer Einrichter eben längst noch kein Regisseur ist und beim Schlußapplaus besser hinter den Kulissen bliebe. Esther Slevogt

Nächster Termin des Uraufführungstheaters ist der 22. November 1998 mit „Eleonora“ von Sabine Bräuning um 11.15 Uhr in der Vagantenbühne, Kantstraße 12a, Charlottenburg

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