Keine Krokodilstränen

■ „Caroline Sara 35“: Der Thalia-Treffpunkt auf kühlem, theatralischem Rundgang durch die Israelitische Töchterschule

Das Girlie mit dem Lolli im Mund verzieht ihr Gesicht. Sülzt da einer rum von „vergangenes Leben sichtbar machen“ und „Erlebnisraum macht Geschichte fühlbar“. Emotionsbetonte Phrasen, die das früher so beliebte Wortungetüm „Vergangenheitsbewältigung“ abgelöst haben.

Wir sind wieder in der Schule. Kreischende Kinder stürmen die Treppe herunter. „So waren wir auch“, meint eine Dame mit schlohweißem Haar. „Nur so laut durften wir nicht sein.“ Es ist der 9. November 1998. Vor sechzig Jahren war die Reichspogromnacht. „Stimmt, wir haben den 9. November“, sagt der Hausmeister leicht gelangweilt. „Heute ist Premiere. Dann führe ich Sie mal durchs Gebäude.“ Caroline Sara 35, ein „Theaterrundgang zur Geschichte und Gegenwart der Israelitischen Töchterschule“ kann beginnen.

Das Girlie, der Dozent und der Hausmeister – sie und ein Dutzend andere sind Schauspieler vom Thalia-Treffpunkt. Nur die alte Dame aus dem Publikum war wirklich Schülerin in der Karolinenstraße 35, die als letzte jüdische Schule in Hamburg 1942 geschlossen wurde. Das genaue Datum und einiges mehr aus der Schulgeschichte erfahren wir später. Abgelesene und aufgesagte Daten und Fakten, die ich wie früher in der Schule sofort vergesse. Lebendig wird hier Geschichte nicht durch Worte. Das Haus erzählt ohne Theater. Mit Fotos im Treppenaufgang und einer Gedenkstätte ganz oben.

Langsam zieht der Pulk von der Schulaula im dritten Stock in den Heizungskeller hinunter. Im Naturkunderaum hören wir einen Vortrag über gesättigte Fettsäuren. In der Kindertagesstätte deklamieren die Darsteller Klassisches aus der deutschen Literatur. Und im Schulzimmer spielt eine zweiköpfige Band einen Song von Herbert Grönemeyer: „Es gibt viel zu verlieren, du kannst nur gewinnen.“

Viel Raum bleibt für eigene Gedanken bei diesem Rundgang. Jeder Anflug von Mitleid oder Trauer über das Schicksal der jüdischen Lehrer und Kinder wird bewußt zurückgedrängt. Dieses kühle Konzept (Text und Inszenierung: Herbert Enge) bewahrt vor heißen Krokodilstränen. Aber auch vor jeder anderen Emotion. Nur in der Turnhalle, wenn Mädchen vom ETV stolz ihre akrobatischen Kunststücke am Barren und auf dem Boden vorführen, wird kindliche Lebenslust spürbar. Und Trauer über so viele nicht gelebte Leben. Aber das ist schon wieder Gesülze.

Karin Liebe

bis 28. November, 18 Uhr, nicht tägl., Karten über das Thalia Theater