„Nachholbedarfe bei Bildung, Kultur und sozialer Infrastruktur“

■ Über Atomausstieg und Arbeitsplätze, Voscherau und Volksgesetz, Fehlentwicklungen, Leistungsverdichtungen und eine 50-Prozent-Reminiszenz: Der SPD-Landesvorsitzende Jörg Kuhbier im taz-Interview über das erste rot-grüne Jahr in Hamburg

taz: Nach einem Jahr SPD-GAL-Regierung in Hamburg resümieren wir: Viel verwaltet, wenig gestaltet. Wo, Herr Kuhbier, bleiben Glanz und Gloria der Koalition?

Jörg Kuhbier: Glanz ist sehr relativ, und nicht alles, was glänzt, ist bekanntlich Gold. Diese Stadt ist in einer schwierigen Situation. Viele Arbeitslose, Sparzwänge, hohe Sozialleistungen: Alle Probleme, die 16 Jahre Bonner CDU-Regierung geschaffen haben, stellen sich in Hamburg verstärkt dar. Und daß zwei politisch sehr verschiedene Partner bisher so reibungslos zusammenarbeiten, ist eine große Leistung.

Glanz könnte auch dadurch entstehen, daß man Arbeitsplätze schafft. Ihr Parteikollege und Ex-Bürgermeister Henning Voscherau hat hinsichtlich der DASA-Erweiterung in Finkenwerder moniert, der Senat habe keine „vorauseilenden Fakten“ geschaffen.

Wir haben eine neue Regierung unter einem neuen Bürgermeister. Und die hat alle Maßnahmen ergriffen, um sich erfolgreich um die Endmontage des Airbus A3XX zu bewerben. Vorauseilende Maßnahmen würden zu einem Fiasko vor den Verwaltungsgerichten, zum Beispiel bei Klagen der Umweltverbände, und bei der EU führen.

Besteht keine Gefahr, daß SPD-Rechte wie Henning Voscherau gegen diese Politik aufbegehren?

Gegenwärtig sehe ich das nicht. Aber natürlich hat Herr Voscherau wie jeder Bürger das Recht, sich zu politischen Prozessen zu äußern und muß dann auch mit Widerspruch rechnen.

Vehement geäußert haben sich auch die 80.000 Hamburger, die gegen die Sparpläne im Bildungsbereich auf die Straße gingen. Ist das ein Mißerfolg der Koalition?

Offenbar ist es uns nicht gelungen, bei Eltern, Kindern und Lehrern deutlich zu machen, daß Leistungsverdichtungen nötig sind. Zwar gibt Hamburg im Bundesvergleich noch immer das meiste Geld für Bildung aus, aber die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich verändert. Angesichts des Haushaltsdefizits konnten wir nicht anders, als auch diesen Bereich zu belasten.

Also nur ein Kommunikationsproblem?

Es gibt Unzufriedenheit mit dieser Politik. Aber wir müssen versuchen, den Interessengruppen zu erklären, daß wir weniger Mittel effizienter verteilen müssen.

Wäre ohne die GAL anders gespart worden?

Die Grünen haben erreicht, daß Personaleinsparungen bei den Lehrern um ein Jahr verschoben wurden. In den Koalitionsverhandlungen gab es aber eine weitgehende Übereinstimmung beim Konsolidierungspaket.

Von 1986 bis 1993 waren Sie Hamburgs Umweltsenator, und schon damals waren Sie atomkritisch. Nun steht im Koalitionsvertrag das Ziel, bis 2002 das AKW Brunsbüttel abzuschalten. Ist der Ausstieg näher gerückt?

Auf jeden Fall. Ein Land wie Hamburg allein kann zwar keinen Stromkonzern zwingen, ein Atomkraftwerk abzuschalten. Aber wenn das Bundes-Atomgesetzes geändert wird, werden die AKWs Brunsbüttel und Stade ganz oben auf der Abschaltliste stehen. Angesichts vorhandener Überkapazitäten halte ich das für absolut verantwortbar.

Wir möchten jetzt mit Ihnen ein Rätselspielchen machen. Wir umschreiben mehrere Themen; wenn Sie die richtige Antwort wissen, dürfen sie kurz kommentieren.

Und wenn nicht?

Dann nicht. Los geht es mit HamburgerInnen, die schon lange welche sind und es nun auch offiziell werden sollen.

Meinen Sie die doppelte Staatsangehörigkeit? Die halte ich für eine ganz wichtige Entscheidung der rot-grünen Koalition in Bonn. Wir in Hamburg werden versuchen, für das neue Recht auch die Zustimmung der heute noch kritischen Bürger zu erreichen.

Kennen Sie einen faulen Kompromiß im Koalitionsvertrag, der dazu führt, daß gar nichts passiert?

Es gibt da keine faulen Kompromisse. Höchstens einige Punkte, über die wir in dieser Legislaturperiode keine Entscheidungen treffen.

Wir meinten die Alternative Stadtbahn oder Flughafen-S-Bahn.

Das ist kein fauler Kompromiß, sondern – wegen der hohen Folgekosten – richtig, diese Frage zurückzustellen. Aber ich darf ja gar nichts sagen, wenn ich es nicht erraten habe.

Kommentieren Sie doch statt dessen ein Phantom, auf dessen Nicht-Existenz die schweigende Mehrheit pfeiffert.

Damit sprechen Sie die Jugendkriminalität an. Pauschale Forderungen nach geschlossenen Heimen helfen niemandem und lösen das Problem nicht. Wir müssen differenzieren und den jungen Menschen Perspektiven bieten.

Das große Sieb, durch das in Hamburg alles fällt, was nicht Investoren nutzt?

So ein Sieb gibt es nicht.

Doch. Das Haushaltsloch.

Im Haushalt wird viel Geld bereitgestellt, das Investoren nichts nutzt. Zum Beispiel Sozialleistungen, Kultur und Bildung.

Ein rot-grüner Erfolg, der zustandekam, weil er nichts kostet?

Kenne ich nicht.

Wir meinten die Hamburger Ehe.

Die ja keine Ehe im rechtlichen Sinne ist. Aber sie trägt dazu bei, daß sich gleichgeschlechtliche Paare psychologisch in diese Gemeinschaft mit aufgenommen fühlen.

Und zum Schluß ein Problem, zu dessen Beseitigung die Koalition noch nichts getan hat?

Da fallen mir mehrere ein.

Sie dürfen aussuchen.

Zum Beispiel haben wir das Problem der Arbeitslosigkeit noch nicht gelöst. Auch die Ausbildungsplatznot ist nicht dauerhaft beseitigt. Aber wir haben Lösungsansätze wie den 2. Arbeitsmarkt, das QUAS-Programm, die Produktionsschule und das Hamburger Bündnis für Arbeit.

Drei Treffer bei sechs Versuchen, Herr Kuhbier. Können Sie sich erinnern, wann Hamburgs SPD zuletzt 50 Prozent schaffte?

Bei der Bürgerschaftswahl am 2. Juni 1991 erreichten wir die absolute Mehrheit der Mandate. Da konnten wir im Wahlkampf unter anderem auf eine sehr erfolgreiche Umweltbilanz verweisen...

...des damaligen Umweltsenators Kuhbier. Kommen wir zu zwei aktuellen Themen, die für Zündstoff zwischen den Koalitionspartnern gesorgt haben. Beispielsweise die Weisung der Sozialbehörde, die Mietzuschüsse für Sozialhilfeempfänger zu senken. Warum hat sich Ihre Fraktion geschlossen hinter diese Richtlinie gestellt?

Es geht darum, das Hamburger Niveau dem in anderen Bundesländern anzugleichen. So etwas ist immer schwierig, wenn man vorher günstigere Bedingungen hatte. Aber man muß das vernetzt sehen: Jede Mark, die wir hier sparen, kann woanders eingesetzt werden, beispielsweise für Fixerstuben.

Die neue Richtlinie führt im Extremfall dazu, daß SozialhilfeempfängerInnen gezwungen werden, sich Untermieter zu suchen oder auszuziehen, nur weil ihre Wohnung plötzlich als zwei Quadratmeter zu groß gilt. Das steht gerade Sozialdemokraten nicht gut zu Gesicht.

Das Thema ist noch nicht abschließend diskutiert. Wenn es Fehlentwicklungen gegeben hat, werden wir darüber reden müssen. Aber ich gebe zu, daß dies kein Glanzpunkt einer rot-grünen Koalition ist.

Ebenfalls kein Glanzlicht ist das Gerangel um das Thema Volksgesetzgebung, das beide Koalitionspartner völlig unterschätzt haben.

Wir haben das Thema anders bewertet. Als die Diskussion aufkam, sind wir nicht davon ausgegangen, daß es so einen großen Zuspruch geben würde. Außerdem waren wir mit dem Bundestagswahlkampf beschäftigt und hatten nicht vor, daraus eine Wahl um die Volksgesetzgebung zu machen. Trotzdem haben wir schon früh, im Mai dieses Jahres, Alternativen und Ergänzungen zum Vorschlag von „Mehr Demokratie“ formuliert und die auch mit der Initiative diskutiert.

Erfolglos.

Ja. Dennoch haben wir uns entschieden, uns nicht so stark in die Diskussion einzubringen, um nicht das medienwirksame Feindbild zu stärken, das die Initiative von uns zeichnete. Diese Strategie war nur teilweise erfolgreich, das räume ich ein. Jetzt sind wir in einer schwierigen Situation: Was bei einem Entwurf herauskommen wird, dem alle drei Fraktionen in der Bürgerschaft zustimmen werden, vermag niemand genau zu sagen. Und die Gefahr, daß man damit mehr Unruhe als Frieden stiftet, verstärkt in Teilen der SPD den Widerstand.

Zum Schluß noch ein Blick in die Zukunft. Der Bonner SPD-Finanzminister Oskar Lafontaine hat schon leise um Verständnis dafür geworben, daß erst der Bundeshaushalt saniert werden müsse, bevor die Länderfinanzen dran sind. Wird dadurch das Hamburger Ziel gefährdet, bis 2002 den Betriebshaushalt zu sanieren?

Dadurch sicher nicht. Wir wußten, daß mit Rot-Grün auf Bundesebene nicht plötzlich neue Geldströme nach Hamburg fließen würden. Der Senat muß höllisch aufpassen, daß die Länder nicht alle Finanzierungslücken füllen müssen. Es wird weiterhin eine konstruktive politische Auseinandersetzung mit dem Bund geben.

Wird trotzdem einiges besser?

Ich rechne mit mittelbaren Auswirkungen der neuen Bonner Politik: Dadurch, daß mehr Arbeits- und Ausbildungsplätze geschaffen werden, gibt es zum Beispiel mehr Steuerzahler sowie Entlastungen bei der Sozialhilfe und im Ausbildungsbereich.

Fürchten Sie den Moment, in dem Hamburgs Landeshaushalt wieder schwarze Zahlen aufweist und alle Begehrlichkeiten artikuliert werden, die jetzt mit dem Verweis auf Sparzwänge unterdrückt werden?

Nein. Diese Begehrlichkeiten sind ja schon da, und die Politik lernt, damit umzugehen. In einigen Bereichen, beispielsweise bei der Kulturförderung, im Bildungsbereich und bei der gesamten sozialen Infrastruktur werden aber tatsächlich Nachholbedarfe entstehen, die man dann berücksichtigen muß.

Interview:

Sven-Michael Veit / Judith Weber